Geist

Als ich das Abteil betrat, sahen die beiden alten Leute nicht auf. Eifrig wühlten sie gemeinsam in einer kleinen Tasche und zauberten eine Zeitung und ein Buch hervor. Ich setzte mich, nahm einen Viererplatz in Beschlag und überlegte, in welche Richtung der Zug fahren würde.

Die beiden Alten nahmen keinen Anstoß an meinem Platzraub, an meinen Schuhen auf der Sitzkante, vertieften sich in ihre Lektüre. Heimlich schaute ich hinüber. Keinerlei Reaktion erfolgte. Ich blickte offensichtlich hinüber, wendete demonstrativ Kopf und Oberkörper in ihre Richtung, starrte sie aufdringlich an. Die alte Frau drehte sich zu ihrem Mann und murmelte ein paar Worte. Er antwortete, sie lachte, las weiter. Ich bin ein Geist.

Mein Schnupfen machte sich bemerkbar, machte mich bemerkbar. Ich nieste lautstark. Mehrmals. Anschließend vernahm ich nur Stille, keine Genesungswünsche, keine Regung, keinen Laut aus den Mündern der Alten. Selbst als ich mir die Lunge aus dem Hals hustete, als ich mich keuchend an der Lehne festkrallte, um nicht von mir selbst vom Sitz zu gerissen zu werden, als mir jede Luft zum Atmen fehlte und ich im Geiste flehte, daß dieser Hustenanfall vorbeigehen möge, blickten die beiden Alten nicht zu mir herüber. Ich war unsichtbar.

Heimlich faßte ich in mein Gesicht, tastete nach meinem Leib, befürchtete, mit der Hand hindurchzugleiten. Doch ich spürte mich, war noch da.

Die Alten erhoben sich, halfen sich gegenseitig beim Bekleiden. Sie sahen zu mir – doch sahen mich nicht. Als sie ausstiegen, fragte ich mich, wo ich bin. Noch immer hier?

Ich sah mich, meinen Körper, fühlte mich, konnte mich atmen hören. Verweilte ich noch in dieser Welt? Oder war ich unsichtbar, für mich allein zu sehen, ein Geist, ein Dämon gar?

Der Schaffner trat ins Abteil, wünschte meine Fahrkarte zu sehen.

Ich atmete auf: Ich war noch immer hier.

Vergessene Welten

Gerade eben setzte sich sich der Zug behäbig in Bewegung, begann beschleunigend die Fahrt in meien zweite Heimat. Das Bahnhofsgelände rauscht außen vorbei; ich sehe aus dem Fenster und begegne fremden Welten.

Dieser Bahnhof besitzt zwei Seiten. Die erste kenne ich gut. Unzählige Male hielten sich meine Blicke an den bekannten Gebäuden fest, erfreuten sich heimkehrend der restaurierten Fassade der Bahnhofshalle. Die zweite Seite jedoch verbirgt sich, verblieb bislang unbekannt.

Auf rostenden Gleisen stehen wuchtige Lokomotiven, deren roter Lack allmählich abzublättern beginnt. Unzählige Masten und Signale bilden einen wirren Wald aus Metall. Zerfallene Backsteinbauten stehen herum, mit längst veralteten, verrottenden Schildern bestückt. Überall wuchert wild das Unkraut, entfaltet sich in unkontrollierter Freiheit.

Hinter den Gleisen stehen Häuser. Ihre Scheiben sind längst erblindet oder von Steinen zerschmettert. Grau und tot präsentiert sich das dreckverkrustete Mauerwerk, zeugt von Vergessen. In Reih und Glied warten sie neben den Gleisen wie Veteranen längst verlorener Kriege. Ich kenne sie nicht.

Vielleicht tummelte sich einst Leben in ihnen, Arbeitende, Maschinen, menschliche Stimmen, zu Gelächter geformt, die üblichen Wünsche und Sehnsüchte in den Köpfen träumender Wesen. Vielleicht waren sie einst wichtig, stolze Bestandteile des Bahnhofs, bedeutend für den seinen Betrieb, unentbehrlich für seine Funktionalität.

Heute jedoch wirken sie traurig, leer und kalt, einer Geisterstadt entnommen. Ich entdecke einige Buchstaben – eine einstige Beschriftung vielleicht – doch vermag ich sie nicht zu entziffern, kann mich nicht erinnern, die zweite Seite des Bahnhofs jemals zuvor entdeckt zu haben.

Schon länger bewohne ich diese Stadt, wandle durch ihre Adern, kenne Bauten, kenne Bewohner. Doch die Welt hinter dem Bahnhof kenne ich nicht.

In meinem Kopf befrage ich den Stadtplan, orte den geheimen, vergessenen Bezirk. Schon oft verweilte ich hier, lief durch die Straßen, fuhr zu wichtigen Zielen. Doch niemals zuvor sah ich diese Häuser.

Nur wenige Straßen weiter erblicke ich weitere Gebäude, Wohnhäuser. Ich erkenne sie wieder, glaube mich an einen Mieter erinnern zu können, fände sie sofort, müßte ich danach suchen. Aber das vergessene Zwischenreich, die ungesehene Welt hinter dem Bahnhof, vermag ich nicht zu fassen.

Für einen Moment bedrängt mich der Wunsch auszusteigen, zu erkunden, was längst dem Verfall überlassen wurde, der Wunsch zu entdecken, was so geheim, so fremd, auf der Bahnhofsrückseite verweilt, will berühren, was sich so geschickt vor meinen Blicken verbarg. Schon stehe ich auf…

Am Fenster rauscht die Außenwelt vorbei. Längst liegt die zweite, die myteriöse, Seite des Bahnhofs Kilometer hinter mir. Ich setze mich wieder, versinke im Sitz, in meine Gedanken.

Die Lautsprecherstimme weckt mich. Ich bin bereits am Ziel. Als ich mich erhebe, mir meine Jacke überwerfe, erhasche ich, kurz bevor der Zug zum Stehen kommt, einen Blick nach außen – auf eine weitere Welt jenseits des Bahnhofs, jenseits menschlicher Erinnerung.

Fassunglos steige ich aus, fliehe in die Wirklichkeit.

BMW-Mantra

In der Straßenbahn saß hinter mir ein Paar. Ich schätzte die beiden auf Ende Vierzig und stellte mal wieder fest, wie schwer es mir fiel, Menschenalter zu erahnen. Heimlich nach hinten lugend, beobachtete ich sie, wie sie ihrerseits einen BMW beobachteten, der neben uns hielt. Silbergraumetallic. Neu. Funkelnd und glänzend.

Die beiden schauten aus dem Straßenbahnfenster hinaus, auf den BMW hinab. Zumindest versuchten sie es. Schließlich war die Scheibe über und über mit Außenwerbung beklebt. Ich hörte wie der Mann sich auf seinem Sitz hin- und herbewegte, um optimale BMW-Sichtverhätnisse zu erwirken. Seine Frau dagegen betonte immer wieder: „Ich kann hier durchgucken!“ und meinte die winzigen Löcher in der fensterbedeckenden Werbefolie.

Der Mann ignorierte sie, starrte wie besessen auf den blitzenden BMW: „Ist ’n 7er. Ich kanns nicht genau erkennen. ‚N 7er.“

Während er sich weiterhin bemühte, seine Sitzposition den mangelnhaften Sichtverhältnissen anzupassen und einen Blick auf das auskunftgebende Fließheck des teuren Wagens zu werfen, murmelte er beschwörend, sich ständig wiederholend: „‚N 7er. ‚N 7er.“. Wie ein Mantra.

Die Ampel schaltete auf Grün; der BMW fuhr an. Es war ein 5er.

Ohne seinen BMW-Beschwörungsritus zu unterbrechen, als hätte er die ganze Zeit nichts anderes gesagt, murmelte der Mann weiter vor sich hin: „N ‚7er. N ‚7er. N ‚5er …“ und ergänzte schließlich, wie um mit beeindruckendem Fachwissen zu protzen: „‚N 5er… Kombi.“

Dann war er weg. Der 7er. Äh … 5er. Kombi.

Zugbegleitende Minderheiten

Die Bahn macht mobil. In Minderheiten.

Ich habe keine Ahnung, ob der allseits unbeliebte Bahnchef Mehdorn in einem deutschlandweiten Rundbrief an seine Personalabteilungen die Forderung nach zunehmender Integration von Minderheiten in das Zugbegleiterpersonal stellte oder ob ich nur das skurrile Glück hatte, bei den letzten Zugfahrten immer wieder von derartigen nach meinem Ticket befragt zu werden. Fest steht, daß ich eines Tages als ich schmökernd in dem S-Bahn-artigen Gefährt saß, welches stündlich zwischen Halle und Magdeburg hin und her pendelt, von einer wenig attraktiven Frau nach meiner Fahrkarte gefragt wurde. Ich habe ihr Gesicht nicht länger in Erinnerung, doch erinnere mich noch deutlich eines slawischen Akzents, der mich grübeln ließ, welcher nationalen Abstammung die Schaffnerin, Verzeihung: die Zugbegleiterin, wohl sein mochte. Allein die Tatsache der Integration einer urspünglich ausländischen Mitbürgerin in das Bahnpersonal fand ich lobenswert und verschaffte der sonst selten mit Positivaspekten belegten Deutschen Bahn einen kleinen Pluspunkt auf meiner inexistenten Bewertungsskala.

Allerdings maß ich der Sache nicht derart große Bedeutung bei, daß sie mir in allen Einzelheiten im Gedächnis blieb. Jedoch begab es sich, daß mir auf der Rückreise in der gleichen Regionalbahn erneut die Frage nach meiner Fahrkarte gestellt wurde. Diesmal handelte es sich bei dem Kontrolleur um einen jungen Mann von geringer Körpergröße und schmaler Statur. Sein Schnauzer wirkte ein wenig albern und erweckte den Eindruck, zu einem Türken zu gehören. Der Eindruck täuschte nicht, war doch sein Akzent eindeutig türkisch gefärbt. Ich gebe zu, daß die Färbung auch arabisch gewesen sein konnte, daß der kontrollierende Zugbegleiter womöglich nicht aus der Türkei, sondern aus dem Iran oder dergleichen stammte, doch steht fest, daß Deutschland vermutlich nicht als seine ursprüngliche Heimat zu bezeichnen war.

Wieder vergaß ich diese Begebenheit und sollte ich mich erst wieder an sie erinnern, als ich mich vor wenigen Tagen in der Regionalbahn von Halle nach Magdeburg befand. Es war Samstag Abend, der Zug war verhältnismäßig leer, ich hatte meine Ruhe. Letzteres ist in den seltensten Fällen gegeben, weswegen ich bei nahezu jeder Zugfahrt die Möglichkeit des Erwerbs eines tragbaren Musikabspielgerätes zum Ohrenverstopfen erwäge. An einer der unzähligen Dorfhaltestellen steigen zwei Rentner zu, plazierten sich direkt hinter mir und begannen ausfürlich über ihren Sohn zu diskutieren, dem sie gerade einen Besuch abgestattet hatten. Ich versuchte, mich in die Bedienungsanleitung meines Photoapparates zu vertiefen, doch versagte. Die beiden, in wasserabweisendes Wanderoutfit gekleidet und mit scheinbar unabnehmbarer Woll- bzw Schirmmütze bestückt, wurden in ihrer dorfdialektisch eingefärbten Nonsens-Unterhaltung, in der sie ständig einander zu bekräftigen versuchten und immer neue Worte fanden, um bereits Gesagtes anders zu umschreiben, erst unterbrochen, als der Zugbegleiter in das Abteil hereinspazierte.

„Hereinspazierte“ trifft es vielleicht nicht ganz, war es doch mehr ein elegantes Tänzeln, das man bei maskulinen Wesen eher selten sieht. Sowohl diese Gangart als auch seine Frisur, sein gut ausrasierter Bart und der Ring im rechten Ohr bewirkten bei mir eine Spontanassoziation zu dem Wort „schwul“. Und wie es aussah, war mein erster Eindruck ein richtiger, wurde er doch durch Gestik, Stimme und Sprache des Zugbegleiters verstärkt.

Das Rentnerpaar besaß eine eindeutig falsche Fahrkarte, aber nicht die Fähigkeit zur Einsicht, was zu einer Endlosdiskussion zu führen schien. Immer wieder verwies der kontrollierende Bahnmitarbeiter darauf, was deutlich auf dem Ticket zu lesen war, vermochte aber keine weiteren Argumente für die Eindeutigkeit seiner Aussage zu finden. Er blieb ruhig, ging höflich auf die beiden Älteren ein, neigte aber zu einem Anflug von Verzweiflung, als er der Uneinsichtigkeit der Rentner gewahr wurde. Diese nämlich diskutierten wild durcheinander, nicht vergessend, sich völlig ihrem unappetitlichen Dialekt hinzugeben, auf die Bahn, ihre Preise und die bösen, bösen Automaten zu schimpfen, die doch gefälligst alles ausführlich zu erklären hätten.

Selbst als der offensichtlich homosexuelle Zugbegleiter sich mir zuwandte und die beiden Nahezu-Schwarzfahrer mit ihrem flaschen Ticket allein ließ, ohne ihren Fehler zu ahnden, schimpften sie weiter, diskutierten, behaupteten, die richtige Fahrkarte zu besitzen.

Seiner Verzweiflung nachgebend zeigte er nun auch mir das Ticket, wollte darin bestätigt werden, was auf dem unrichtigen Ticket eindeutig zu lesen war. Lächelnd gab ich ihm recht, zeigte meine eigene, gültige Fahrkarte und war sogar so großzügig, meine Bahncard unaufgefordert vorzuweisen. Die Alten gaben keine Ruhe, doch diskutierten mittlerweile eher mit sich selbst als mit dem Zugbegleiter. Dieser hatte seine Ruhe noch immer nicht verloren, beendete seinen freundlichen Kontrollblick auf mein Ticket und verschwand aus dem Abteil.

Ich hörte mir die Diskussion der beiden Zurückbleibenden noch eine Weile an, versuchte, einen guten Rat einzubringen, der aber abprallte und darin mündete, daß die bereits tausendfach aufgeführten Unschuldsbetuerungen noch einmal von vorn begannen. Ich seufzte leise und vertiefte mich erneut in meine Bedienungsanleitung.

Als die Rentner wenige Bahnhöfe später ausstiegen und die ersehnte Ruhe in mein Abteil zurückkehrte, stellte ich resümierend fest, daß ich nicht nur die zunehmende Integration in Deutschland lebender Minderheiten in das Zugbegleiterpersonal der Deutschen Bahn guthieß, sondern wohl in meinem gesamtem Bahnfahrerdasein noch keine derart freundlichen Zugbegleiter erlebte.

Deswegen fordere ich an dieser Stelle lautstark:

Mehr schwule Schaffner für deutsche Bahnen!

Straßenbahnerlebnisse 3

Ich gebe zu, ich bin ein häufiger Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs und neige zuweilen dazu, in diesen Fortbewegungsmitteln den kleinen Ungewöhnlichkeiten anderer Passagiere zu widmen. Eines jedoch ertrage ich überhaupt nicht, insbesondere wenn mir geeignete Gegenmittel [wie mobile Musikabspielgeräte jeder Art] fehlen: überlaute Unterhaltungen.

Erst heute begegnete ich einem besonders aufdringlichen Exemplar dieser Gattung. Zwei Frauen, schätzungsweise zwischen 50 und 60 Jahre alt, wenig vorteilhaft gekleidet, saßen einander gegenüber. Etwas abseits hatte sich der zu einer der beiden gehörende Mann platziert.

Die Damen unterhielten sich, besser: eine von ihnen unterhielt. Ihr Mund stand nie still. Vermutlich lag es an ihrem albernen Ohrenwärmerstirnband, daß sie der Überlautstärke ihrer Stimme nicht gewahr wurde. Ich jedoch bemerkte sie. Und das nicht nur nebenbei.
Die Frau redete und redete und schien weder zu einer Atempause noch zu einem Themawechsel bereit.

Ihre unzähligen Sätze faßten den Inhalt irgendeiner hirnlosen Comedy-Sendung des Vortags zusammen, bei der sie sich wohl hinreichend amüsiert hatte. Nun glaubte ich nicht, daß mein Amusement ebenso intensiv gestaltet gewesen wäre. Schlimmer noch war es jedoch, ihr notgedrungen zuhören zu müssen, wie sie jedes unbedeutende Detail des Gesehenen dezibelintensiv beschreiben mußte, aber irgendwie verfehlte, auch nur eine winzige Prise Humor beizufügen.

Sie gab ihren ausführlichen Bericht zum Besten und vergaß auch nicht, immer wieder, insbesondere bei Erwähnung teilhabender deutscher Pseudoprominenz à la „Schanedd Biedormann“, ihrer lauschenden Begleitung die rhetorische Frage zu stellen: „Die gennste doch, oder?“.

Nur einmal richtete sie eine derartige Frage an ihren Mann und kommentierte sogleich lautstark seine darauffolgende Sprachlosigkeit:
„Du hörst mir doch eh nich zu. Ich genn dich doch. Du hörst eh nich zu.“

Bis jetzt bewundere ich diesen Mann und frage mich, wie er er wohl geschafft haben mag, trotz aufdringlicher Überlautstärke nicht zuzuhören…

Zugfahrt – Ein Tatsachenbericht

Der Kasper neben mir, der sich als „Juppi“ vorgestellt hatte, schweigt nicht. Seine Bierfahne bemerke ich schon lange nicht mehr; leicht vermag sie sich in unter dem allgemeinen Gestank der grölenden Masse zu verstecken.

Nachdem ich feststellte, daß die Welt unter meinen Füßen außeinanderzubrechen droht, trat ich die Heimfahrt an – allerdings inmitten einer zugbesetzenden Gruppe angetrunkener Fußballfanatiker, deren Verein in meiner Heimatstadt ein scheinbar bedeutsames Spiel zu bestreiten hat. Ein Derby: Magdeburg gegen Halle.

Der Fahrkartenautomat verweigerte im letzten Moment den Dienst, mein Zugeintieg erfolgte in höchster Eile. Ich quetschte mich an den unzähligen grüngewandeten, mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüsteten Ordnungskräften vorbei und platzierte mich auf dem letzten, verfügbaren Sitz, direkt neben einem unrasierten Mittdreißiger, der mich sogleich mit lallenden Worten belegte und sich umständlich vorstellte Juppi. Ich leihe ihm meinen Schlüsselanhänger zum Öffnen seiner Bierflasche, und unsere Freundschaft ist besiegelt.

Er ist freundlich, erklärt mir die Umstände (Magdeburg gegen Halle. Derby. Fußball. Fans. Zugfahrt. Polizei. Lustig.) , die ich längst begriff, versucht den uns umgebenen Lärm mit Eigengeräusch zu ünertönen. Ab und zu unterbricht er sich, um bei einem Fußballgesang, den er kennt, mitzugrölen.

Die Gespräche ringsum kann man kaum als solche bezeichnen: Sinnlose Bemerkungen über Bier wechseln sich ab mit einem gegenseitigen Anfeuern; es folgt eine Diskussion über die verbleibende Anzahl an Bierflaschen im Kasten und darüber, sich und insbesondere die Stimmorgane, für später zu schonen; gleichzeitig fliegen Haßtiraden gegen Hallenser Fußballer und deren Anhänger durch die stickige Luft, unterbrochen von einer Zählung der verbliebenen Bierflaschen und textlosen Schalala-Gesängen. Und stets präsent ist die wohl bedeutsamste aller Fragen dieser Augenblicke: Wo zur Hölle ist das verdammte Klo?

Die grünen Wächter bleiben erstaunlich gelassen, tolerieren den zunehmenden Alkoholkonsum, den Genuß von Zigaretten im Nichtraucherabteil, tolerieren die albernen Gesten und das pseudomännlich-affenartige Gehabe. Nur einmal „eskaliert“ die Situation, als ein Fußballfreund in ruhigem Tonfall aufgefordert wird, sich zu setzen – und nach einigen bierbedingten Verständigungsschwierigkeiten gehorcht. Neben ihm lassen sich zwei Grüne nieder, augenscheinlich froh, auch einmal sitzen zu können.

Ich bemerke erstaunt, daß die Gesangsstimmen der sangesfreudigen Magdeburger Fans stets mindestens eine Oktave tiefer zu sein scheinen als ihre mittlerweile recht heiseren Sprechstimmen. Ein Grüner wird beim allgemeinen Rumgehüpfe angerempelt – und erhält eine Entschuldigung dafür.

Juppi, der freundliche Anhänger einer einseitigen Konversation mit mir, vertraut mir seinen Beutel an. Dessen Inhalt besteht – natürlich – aus mehreren Bierflaschen. Immerhin hat er einige Minuten zuvor erfahren, daß ich Bier meide, was mich wohl in seinen Augen zu einem vertrauenswürdigen Menschen macht. Er verzieht sich – natürlich – aufs Klo.

Sein Sitzplatz wird schnell wieder besetzt – von einem schätzungsweise vierzehnjährigen Jungen, der irgendwann feststellt, daß ich gar keine Frau bin. Ich bin von seiner Auffassungsgabe beeindruckt. Er wiederum davon, daß ich so viele Wörter aneinanderreihe. Ich habe einen weiteren Freund gefunden.

Die Gesänge, sofern man so euphemistisch ist, sie als solche zu bezeichnen, lassen nicht nach; das Niveau der durchaus lautstarken Kommunkation sinkt weiter. Juppi kehrt zurück, tanzt den vierzehnjährigen Platzbesetzer an, der sich aber um andere Dinge kümmert (Bier). Erstaunlicherweise führt auch das zu keinerlei Verdruß.

Nicht minder erstaunlich ist der Umstand, daß auch die wenigen Freunde der Hallenser Mannschaft toleriert werden. Sicherlich fliegen höhnische Worte und beleidigende Gesänge durch die Luft, doch sind sie harmlos und münden nur in verbalen Gegenattacken.

Juppi schmeißt sich unterdessen an eine Sechszehnjährige heran, deren Hüfthose beeindruckend tief sitzt, und versucht sich als Alleinunterhalter – beides natürlich vergeblich. Erwähntes Mädel, ich stelle später fest, daß ihr echter Name Uli ist, zeigt alberne Knutschfotos herum, präsentiert diese sogar den beiden sitzenden Grünen – nur nicht meinem Freund Juppi.

Fast bin ich geneigt, so etwas wie Mitleid mit ihm zu empfinden, was mich jedoch nicht davon abhält, mich der Distanz zwischen mir und ihm zu erfreuen.

Nach einer Weile aber läßt sich Püppi, wie Juppi sie nannte, dazu herab, auch ihm ihre albernen Fotos zu zeigen; die restlichen Mädels, die erstaunlich laut zu grölen vermögen, beschweren sich geifernd über ein anderes Zugabteil, wo alte Männer ihnen an Brust und Po gegrabscht haben. Immenser Biergenuß läßt wohl auch treuste Ehemänner zu hirnlosen Kinderschändern mutieren.

Juppi ist in seinem Element, als er beginnt, lautstark in die Gesänge der anderen Abteile einzustimmen. Erstaunlich, wie laut ein einzelner Mensch sein kann. Ebenso erstaunlich ist, daß der besungene Fußballverein mit einem Male keine Bedeutung mehr zu haben scheint und spontan gegen einen Erstligisten ausgetauscht wird.

Nicht minder erstaunlich ist die Knopfdruck-Funktion: Juppi beginnt mit melodiebefreitem, rhythmusfernen „Schalala“-Gegröle, und die übrigen Anwesenden – abgesehen von mir und den Polizisten – stimmen ein. Ich kann keinerlei Texte ausmachen, obgleich sicherlich irgendwo in dem dezibelintensiven Gelalle ein- oder zweisilbige Wörter versteckt sind.

Ein Grüner ermahnt einen Marsriegelesser, der gerade mit reger Begeisterung eine Bierthematik anschlägt, sein Verpackungspapier nicht auf dem Boden liegen zu lassen, und wird mit einem kollektiven „Spielverderber!“ belegt. Ich schmunzle unfreiwillig.

Mittlerweile beginnen mich die kindischen Hirnlosigkeiten und die montonen, stetig wiederkehrenden und vor allem überlauten Gesänge zu nerven. Den Grünen reicht es aber scheinbar auch. Die Ermahnungen nehmen zu. Ruhe wird gefordert. Mehrmals. Drohungen werden ausgesprochen. Die Reaktionen sind verhalten.

Einer der Störenfriede, der ominöse Marsriegelesser, wird beiseite gezogen, ein unfreundliches Wort findet das nächste. Der Ermahnte setzt sich wieder und bleibt einigermaßen ruhig.

Aber Juppi, der inzwischen wieder den Platz neben mir einnimmt und von der geladenen Simmung innerhalb des Abteils nicht viel mitzubekommen scheint, beginnt zu schunkeln. Ich erwäge mehrmals aufzustehen und zu gehen. Doch wohin?

Püppi wird von Juppi aufgefordert, sich auf seinen Schoß zu setzen, übt sich aber in Ignoranz. Derart abgewiesen wendet er sich mir zu, belastet mich mit zwei oder drei wirren Sätzen, beinhaltend seine Kinder in Thüringebn, seinen Onkel im Ruhrgebiet, sein geschiedene Frau und Fußballfanatismus. Ich verstehe kein Wort. Er erkundigt sich nach meiner bereits gegründeten, allerdings leider nichtexistenten Familie. Ich lächle verzweifelt.

Juppi nervt. Immer mehr. Er beginnt zu grölen, direkt neben meinem rechten Ohr, hört auf, macht weiter. Immer wieder. Aggression liegt in der Luft: gegen Juppi, gegen die Grünen, gegeineinander. Skins laufen durch die Gänge, präsentieren sich. Arroganz zeigt verbissene Gesichter.

Draußen schneit es. Ich versuche, mich dauaf zu konzentrieren, schaffe es nicht.

Zunehmend Beschwerden über Grabscher. Vorher Angetrunkene sind längst Besoffen. Gehirne funktionieren nicht länger. Schreie zerschmettern mein malträtiertes Trommelfell. Polizisten greifen sich einen weiteren Fan. Juppi singt wieder.

Schnee. Atmen. Atmen. Schnee.

Ich will hier raus.

Der Hallenser Bahnhof rückt nahe. Die Grünen postieren sich ander Tür, allgemeines Gedränge herrscht. Doch niemand schubst. Langsam quellt der weißblaue Brei durch die Tür nach außen. Dort erkenne ich nur grün. Der ganze Bahnsteig ist mit Polizisten zugepflastert. Die Treppe zur Bahnhofshalle ist durch eine grüne Mauer versperrt. Ich stelle mich davor und lächle. Inmitten eines Pulks angetrunkener, grölender Fans („Hurra, hurra, die Magdeburger sind da!“) stehe ich und lächle. Ein Polizist bemerkt mich, begreift, daß ich nich zur Meute gehöre und läßt mich durch.

Befreit laufe ich durch die leeren Gänge. Polizisten säumen den Weg. Grimmige Gesichter. Angespannte Minen.

Mein Telefon klingelt. Mein Bruder fordert mich zur Eile auf. Er steht im Parkverbot und ist schon mehrmals von Polizisten zur Weiterfahrt aufgefordert worde. Ich fange an zu zu rennen.

Ein merkwürdiges Gefühl, inmitten einer Masse aus Gesetzeshütern urplötzlich zu rennen…

Ich verlasse den Bahnhof. Mein Bruder winkt mir aus der Ferne zu. Erleichtert lache ich ihm zu.

Es beginnt zu schneien.

straßenbahnerlebnisse 2

ihre kleidung war leger, unkonventionell, auf dezente art und weise „anders“. sie las zeitung, keine der hiesigen lokalzeitungen, irgendein, mir unbekanntes tagesblatt. wie einen schild hielt sie die die bedruckten seiten nach oben, immer wieder umblätternd, sich vom restlichen straßenbahngetümmel abgrenzend. ja, man könnte sogar behaupten, sie isolierte sich von der welt, obgleich sie gerade dabei war, die geschehnisse in ebenjener welt nachzulesen.

hinter sie setzte sich ein paar im rentenalter. ich vermochte nicht viel zu erkennen, starrte ich doch auf ihre bemützten hinterköpfe. soviel sei gesagt: die mützen waren weder modisch, noch formschön, extravagant oder überhaupt nur interessant. die der frau war ein weißes ausgebeultes stück stoff, das nahezu den ganzen kopf bedeckte. alles, was es nicht vermochte, erledigte ein häßlichbraunkarierter schal. die mütze des mannes war von der sorte, die durch den pseudopopstar ben gewisse berühmtheit erlangt hatte – konnte aber auch schon jahrzehnte alt sein. ihr farbton lag irgendwo zwischen braun, grau und grün. auffällig an ihr war vor allem, daß der mann sich die mühe gemacht hatte, sie umzukrempeln, so daß sie nur einen geringen teil seines dickbackigen, schlecht rasierten, roten kopfes zu bedecken vermochte. die ohren blieben frei. das verwunderte mich ein bißchen.

warum, fragte ich mich, müssen ältere leute sich eigentlich prinzipiell in grau- und brauntöne kleiden? warum war beige die am häufigsten gesehene farbe bei menschen über 60? sollte so versucht werden, sich dezent aus dem vordergrund zurückzuziehen, unauffällig zu wirken, niemandem zur last zu fallen, sich womöglich gar farblich an zukünftige, erdige aufenthaltsorte anzupassen?

die beiden älteren personen schauten grimmig aneinander vorbei aus dem fenster und redeten, ohne einander zuzuhören: das übliche genuschelte geschimpfe, das irgendwie zu jedem thema eine abfällige meinung zu beinhalten vermochte. die zeitungsleserin legte ihre zeitung nieder, drehte sich um und unterbrach das sinnentleerte gespräch, indem sie sich danach erkundigte, ob die nächste haltestelle die richtige sei, um zum bahnhof zu gelangen.

die daraufhin erfolgenden antworten hätten sowohl ein ja als auch ein nein sein können, eigentlich sogar beides gleichzeitig. mit stammelnden, genuschelten worten versuchte der ältere mann zu erklären, wie sich die junge frau zu verhalten hätte, sobald sie die straßenbahn verließ, versuchte richtungsweisende erläuterungen zu liefern. allerdings brachte er keinen einzigen vollständigen satz heraus und versteckte den großteil seiner worte unter einer schicht nuschelei. die ältere frau klinkte sich ein, erzählte etwas von fahrrädern, die auf den bahnhofseingang hindeuten würden.

glücklicherweise fuhr die bahn gerade an ebenjenem bahnhof vorbei, so daß sich die beiden überforderten befragten mit profaner gestik zu behelfen wußten, deuteten mehrfach in richtung des bahnhofseingangs, deuteten auf die fahrräder, die man davor erkennen konnte und schlossen damit ihre erklärung ab.

die junge dame bedankte sich freundlich, lächelte artig, schnappte sich ihren rucksack und begab sich zur straßenbahntür. der nuschelmann wies noch auf ihre zeitung, die sie wohl vergessen hätte. „nein, nein.“, lächelte die junge dame, „das ist nur die erste seite. die habe ich schon gelesen. der nächste freut sich.“, und stieg aus.

das alte paar schickte noch ein paar grummelnde worte hinterdrein. ich verstand sie nicht, doch ihr tonfall war mürrisch genug, um zu erahnen, daß weder die begegnung noch die zurückgebliebende zeitung ihnen zusagten.

welche mürrische mienen, wunderte ich mich und beobachtete zu meiner linken, wie eine dame im mittleren alter einen viererplatz für sich allein beanspruchte, indem sie ihre tasche auf den sitz gegenüber stellte und so den zutritt zu den übrigen plätzen versperrte. ein musik hörender jugendlicher warf ihr einen fragenden blick zu. seufzend stellte sie die tasche zwischen ihre beine. der junge nahm platz.

an der nächsten haltestelle stieg ein älterer mann ein, sah sich nach einem platz um und endeckte den nur halb besetzten vierer. er richtete einige wenige worte an die versperrende dame, die daraufhin mürrisch den weg freigab, nicht im geringsten daran denkend, einfach selber weiter, ans fenster, zu rücken. der mann zwängte sich mühsam durch und ließ sich nieder.

die bahn fuhr weiter. die unfreundliche miene auf dem gesicht der frau verblieb. und kaum war die nächste haltestelle erreicht, kaum hatten sich ringsum einige einzelplätze geleert, stand sie auf, ergriff ihre tasche und setzte sich dorthin, wo sie neben keinem fremden zu sitzen hatte, wo sie ungestört bleiben würde. war sie nun zufrieden? nein, ihre miene beharrte auf trübsinn.

und auch die frau, welche die ganze zeit bewegungslos neben mir gesessen hatte, stand nun auf, nicht, um den ausgang zu suchen, sondern um von mir fort auf einen einzelplatz zu kommen. ihr gesicht sprach bände.

was war nur los?, fragte ich mich. überall entdeckte ich nur mürrische mienen, unfreundliche gesichter, nach unten gezogene mundwinkel, böse blicke und finstere stirnfalten. verstohlen tastete ich nach meiner eigenen stirn, befühlte die gegend über die nase. und tatsächlich: auch ich hatte die stirn gerunzelt, unfreundliche falten über meine augen gepflanzt. heimlich versteckte ich meinen kopf in der hand und versuchte die falten glattzustreichen, drückte sie fest an meinen schädel. was hätte ich für ein stirnbügeleisen gegeben!

ich wollte nicht grimmig gucken, wollte nicht mit faltiger stirn durch die gegend laufen. ich knetete eine weile an den runzeln herum, ohne viel zu erreichen. als ich mir jedoch meiner albernen handlungsweise bewußt wurde, stahl sich ein grinsen auf mein gesicht.

und plötzlich waren die runzelfalten verschwunden. ich spürte, wie ein druck von meinem schädel wich, den ich zuvor gar nicht bemerkt hatte. beglückt stieg ich aus, schaute vergnügt einem vorüberlaufenden mädchen in die augen und erntete dafür ein zauberhaft süßes lächeln.

das leben konnte so einfach sein.

straßenbahnerlebnisse

und in der straßenbahn entdeckte ich eine junge dame, deren blasses antlitz meine richtung mied. ich lächelte bei dem traurigen gedanken, daß ich sie wohl nie ansprechen würde, daß ich ausstiege und sie niemals wiedersähe.

auf anderem platz beobachtete sich ein junge in der glasscheibe, sang seinem spiegelbild lautlos, doch ergreifend, ein lied. ich lächelte, weil ich der einzige war, der dieses kleine schauspiel bemerkte und sah weg, als die blicke des jungen zu mir herüber wanderten. ich wollte ihn nicht stören.

die nächste haltestelle war noch weit, da drängelten sich schon die menschenscharen in die straßenbahntürbereiche, stopften sich zu einer formlosen, hektischen masse zusammen. ich saß, wartete geduldig, bis auch der letzte aussteigwillige der bahn entkommen war und huschte dann geschwind zwischen den sich schon schließenden türen hindurch, hinein in die kühle abendluft.

ich lächelte, als ich den regen bemerkte.

Zugfahrt

Der Zug ist leer. Um diese Uhrzeit fährt wohl niemand mehr. Nur eine Handvoll Leute leistet mir Gesellschaft, doch flüchtet sich in verschiedene Abteile, sucht die Isolation von den Anderen, den Fremden. Es ist der letzte Zug. Ich bin froh, ihn erreicht zu haben, lasse mich nieder und freue mich darauf, bald endgültig zu Hause sein zu könen. Ein Türke fragt mich nach einem Wochenendticket. Ich habe keines. Merkwürdigerweise schäme ich mich dafür.
Das Abteil gehört mir alleine. Als der Zug anfährt, wechsele ich den Sitzplatz.

Draußen hinter der Scheibe entdecke ich nur Dunkelheit. Das Rattern des Zuges beruhigt mich. Meine eigenen Worte beruhigen mich. Ein Schaffner kontrolliert meinen Fahrschein. Seine Höflichkeit erstaunt mich und wird von mir erwidert. Ich verkrieche mich wieder in meine Gedanken. Der Türke kehrt zurück, berichtet mir von seiner erfolgreichen Flucht vor dem Schaffner. Ich lächle, gebe ihm recht, weiß nicht, ob er immer so offen ist oder getrunken hat. In seinem Stoffbeutel klirrt es verdächtig gläsern. Es ist mir egal. Wieder allein beiße ich in einen Apfel, lese ein paar Zeilen in einem Buch, das ich längst kenne, doch von dem zu fesseln ich immer wieder bereit bin.

An der Scheibe klebt der Handabdruck eines Kindes. Fasziniert setzte ich meinen eigenen daneben und betrachte die beiden eigenartigen Kunstwerke. In einem anderen Abteil beginnt der Türke zu singen. Laut und nicht wirklich begabt. Ich verstehe kein Wort, doch grinse vergnügt. Als abzusehen ist, daß der fremdartige Gesang nichtaufhören wird, vertiefe ich mich erneut in meine Lektüre.

Vielleicht war heute ein guter Tag.