Ich entsinne mich meiner selbst als lieben und zurückhaltenden Jungen, als jemand, der gute Noten heimbrachte, ohne sich um diese bemühen zu müssen, einer, der mit nicht minder netten Menschen befreundet war, kein Interesse an den berauschenden Torheiten hatte, die konsumiert zu haben Jugendliche sich gerne brüsten. Ich entsinne mich meiner selbst als jemanden, der sich ständig für zu jung hielt, der der körperlichen und freigeistigen Entwicklung seiner Mitschüler und Freunde hinterherhing und dies zuweilen bedauerte – und sich noch heute fragt, ob es gut war, erst mit 18 Jahren, mit dem Ende meiner ersten großen Liebe, inmitten meiner Zivildienstzeit, das Gefühl zu erfahren, was es heißt, einen eigenen Weg gehen zu wollen.
Zuweilen vernehme ich Erinnerungen andere, Diskobesuche zu Schulzeiten betreffend, Alkoholräusche und Zigarettenzüge im Kindesalter erwähnend, sie zuweilen verherrlichend, als wäre allein das Auflehnen gegen elterlich-staatliche Bestimmungen Grund genug, nachträglichen Glanz auf eigentlich magenverstimmende Ereignisse zu legen. Und dann frage ich mich, warum ich nicht anders war, warum ich nie einen Bedarf sah, meinen sich entwickelnden Geist zu berauschen, zu „erweitern“, mich mit Qualm zu umwölken, warum ich nicht „sündigen“ wollte, ja noch nicht einmal daran dachte – und warum ich mir dieser Frage erst bewußt wurde, als die übliche Zeit des Probierens längst ungenutzt hinter mir lag.
Ich entsinne mich meiner als braven Jungen, als brillentragender Streber, obgleich es mir fern lag, tatsächlich strebsam zu sein, als spangenverunzierter Hänfling, der sich hinter Büchern verkroch und einst nächtelang Albträume bekam, weil mich ein älterer Junge dabei erwischt hatte, als ich sinnloserweise billigste Vanillezuckertütchen aus der Kaufhalle entwendet und deren eigentlich gar nicht so schmackhaften Inhalt verzehrt hatte.
Natürlich hatte ich Geheimnisse vor meinen Eltern, doch beschränkten diese sich auf Bravo-Magazinen hinter meinem Bett [Ich wußte nicht, ob meine Eltern akzeptieren würden, daß ich zuweilen derartiges las, und sah mich lieber vor – bis zu dem Tag, an dem mich mein Vater liebevoll diesbezüglich ansprach und ich plötzlich keinen Bedarf mehr darin sah, diese alberne Zeitschrift zu erwerben, auch wenn mir so ein Teil der Mitsprache am Pausengespräch verweigert wurde…], auf Schokoladentafeln im Schrank [Irgendwie gab es bei uns immer viel zu wenig Süßigkeiten…], tagebuchartige Schreibversuche und ein oder zwei talentlose Zeichnungen unbekleideter Damen.
Irgendwann besaß ich sogar mal ein Butterfly-Messer, das mein bester Freund stets „Buttermesser“ nannte. Sein eigenes war verhältnismäßig groß und chromglänzend; meines dagegen war eher kleiner, dafür jedoch schwarz [frühe Tendenzen?] – inklusive der Klinge. Wir waren zu jung dafür – eine Waffe mit stehender Klinge durfte man erst ab 18 besitzen – und das bildete den Großteil des Reizes, dieses Messer sein Eigen nennen zu dürfen und vor den Eltern verstecken zu müssen. Nicht minder bedeutsam war jedoch die richtige Technik des Auf- und Einklappens, die mich mehrere Tage begeisterter Übung kostete.
Doch alsbald wurde ich des Messers überdrüssig, als mir bewußt wurde, daß ich niemals, selbst wenn ich überfallen werden würde, willens wäre, die Klinge in den Leib eines anderen zu rammen. Ich verkaufte es, ohne mich des Verlusts meiner Wagemutigkeit zu grämen.
Mit Freunden suchte ich gerne nach sogenannten „Buden“. Das konnten dichte Büsche sein, in deren Inneren wir uns trafen und quatschten oder Süßigkeiten vertilgten, aber auch leerstehende Altbauten, von denen es in unserer Nähe einige gab. Ich entsinne mich einer Bude, in die wir irgendwoher Sessel und Stühle schleppten, um Tage später festzustellen, daß auch andere dieses leerstehende Gebäude – inklusive „unserer“ Möbel – benutzten. Diese anderen, wir dachten, es wären Zigeuner, hinterließen unzählige Zigarettenkippen – und Zimmer voller Kot und Pisse.
Wir zogen um, in eine Baracke auf dem Hof einer leerstehenden Scheune. Ich weiß kaum noch, was wir dort taten, doch erinnere mich daran, daß hin und wieder auch ein paar Mädchen dabei waren, die Poster von Jonathan Brandis und Chesney Hawks aufhängten.
Irgendwann zogen wir dann in die Scheune. Zu dritt bauten wir im Dachgeschoß einen Grill und rösteten Brotscheiben. Als ich am nächsten Tag meinem Bruder unsere neue Behausung zeigen wollte, war der Holzfußboden durchgeschmort, und drei Meter tiefer lag das, was unser Grill gewesen war. Wir versuchten die schwelende Glut der staubigen Holzbalken mit der restlichen Limonade vom Vorabend zu löschen; dabei brach ich ein und hing plötzlich in dem Loch, unter mir mehrere Meter Luft und dann die wenig weichen Steine unseres improvisierten Grills. Nach einem langen Moment der Angst half mir mein Bruder hinaus, und wir eilten zum nahegelegenen Teich, um die Limonadenflaschen mit Wasser zu befüllen und die restliche Glut zu löschen.
Wir zogen erneut um, in einen Raum mit steinernem Boden. Auch hier entzündeten wir ein kleines Feuer, luden wieder Mädchen ein. Der Raum war voller Stahlwolle, die noch Wochen später in unseren Klamotten juckte. Als der neugefundene Raum inklusive des Dachs der restlichen Scheune ohne unser Zutun [Wir waren vorsichtig geworden.] abbrannte, suchten wir nur noch halbherzig nach einem Ersatz. Ein Speicher wurde inspiziert, aber dieser war der Schule viel zu nah – und außerdem über und über mit Taubenmist bestückt.
Feuer jedoch spielte auch in einem anderen Bereich meiner Jugend eine Rolle: auf dem Schulhof. Irgendwann nämlich erlernten wir die coolste Art, ein Streichholz zu entzünden. Dazu mußte man dieses nur im rechten Winkel an die Reibfläche halten und es anschließend wegschnipsen. Zur gleichen Zeit fanden wir Gefallen daran, Taschentücher zu entzünden. Wir brannten sie an, warfen sie auf den Boden und ergötzten uns am Ausufern und Vergehen der Flammen.
Einmal entzündete ich ein Taschentuch auf dem Nachhauseweg. In der Ferne sah ich eine Omi sich nähern und schämte mich plötzlich dieser albernen Tat. Kurzentschlossen warf ich das Taschentuch in den nächsten Mülleimer, nicht bedenkend, daß sich der Taschentuchbrand auf das Mülleimerinnere ausweiten würde. Doch es war zu spät; der Müllbehälter, glücklicherweise aus Metall bestehend, rauchte bereits, und als ich wenige Stunden später wieder vorbeiging, war er längst ausgebrannt. Noch heute bedaure ich dieses gedankenlose Tun, unabhängig davon, daß nichts und niemand zu schaden kam.
Was ich ebenso bedaure, ist die wohl unangenehmste Eigenschaft meiner Pubertät: Jähzorn.
Ich kannte einen Jungen aus meiner Schule, der die Klasse 6b besuchte, eine Klasse, die von uns, 9a, ohnehin nicht sehr geschätzt wurde, weil sie unseren Hofplatz einschränkte, weil ihre Mädchen nervten usw. Der fragliche Junge hieß Ken und hatte rotes Haar im längst aus der Mode geratenen VoKuHiLa*-Stil. Ich weiß nicht, was genau mich an dem Jungen störte, daß ich ihn ärgerte, aber ich tat es. Wir teilten eine Halle im Sportunterricht, und einmal stellte ich ihm ein Bein.
Eine Tages befanden sich mein bester Freund und ich auf dem Heimweg. Etwa zweihundert Meter entfernt von uns lief Ken zusammen mit seinem Freund. Höhnisch rief ich „Hallo!“, eine Begrüßung, die mir später als „Arschloch!“ ausgelegt wurde. Als Antwort erhielt ich ein forderndes „Komm doch her, wenn du dich traust!“, was meinen Jähzorn aufwallen ließ. Der blöde Kerl war mindestens zwei Jahre jünger als ich und wagte es, sich derart mir gegenüber zu äußern!
Ich rannte los, mit meinem Rucksack auf dem Rücken, holte Ken ein, ließ den Rucksack fallen und begann zu treten. Ken trat zurück, wir trafen einander kaum. Irgendwann traf ich doch – mitten in seinen Genitalbereich. Er stürzte. Ich hatte nicht realisiert, was geschehen war, sah nur, daß Ken auf dem Boden lag. Bis heute bin ich froh, daß ich nicht so blöd war, weiterhin zuzutreten. Ich schnappte meine Sachen und ging nach Hause.
Abends unterhielt ich mich mit meinem Bruder, gestand, was für einen Mist ich gemacht hatte, teilte ihm meine Absicht mit, mich am nächsten Morgen bei Ken zu entschuldigen und ihn fortan in Ruhe zu lassen. Doch der nächste Tag brachte Unheil. In der ersten Stunde, Latein, stand die stellvertretende Direktorin in der Tür, zeigte mit dem Finger auf mich und sagte nur: „Du! Du warst das!“
Ken hatte die Geschichte des Vortages zu seinen Gunsten etwas geschönt und seiner Mutter erzählt, die wiederum in die Schule gekommen war, um sich zu beschweren und den Schuldigen, mich, zu stellen. So saß ich im Zimmer der stellvertretenden Direktorin und bekam keine Gelegenheit zu verteidigenden Worten. Was sollte ein gerade 14-Jähriger, der sich zudem durchaus schuldig fühlte, gegen eine Mutter und eine stellvertretende Direktorin auch ausrichten?
Bis heute ärgere ich mich darüber, daß die Schmerzen Kens als extrem schlimm beschrieben wurden – aber Ken noch nicht beim Arzt gewesen war.
Ich wurde angezeigt, mußte bei der Polizei das Geschehene wiedergeben. Kens Mutter war schon dagewesen, und unzählige Male wurde bei Stellen nachgefragt, die sich von ihrer Version unterschieden. Doch ich sagte die Wahrheit, war viel zu verschüchtert, um irgendetwas anderes ersinnen zu wollen. Immerhin: Der Schuh zählte als Waffe, so daß ich nicht nur der Körperverletzung, sondern der schweren Körperverletzung angeklagt war. Auf mich warteten im schlimmsten Fall fünf Jahre Jugendknast!
Doch die Sache ging gut aus. Unter der Voraussetzung, daß dies eine einmalige Sache gewesen war, ließ mich die Staatsanwaltschaft straffrei. Noch nicht einmal das polizeiliche Führungszeugnis wurde behelligt.
Danach wurde ich ruhiger. Jahre später teilte mir mein Bruder mit, daß er Leute kenne, die Ken liebend gerne verprügeln würde, sollte ich das Bedürfnis verspüren. Ken war ein Arschloch, doch es interessierte mich nicht länger.
Rückblickend erstaunt es mich, daß ich heimliches Fernsehen noch immer als jugendliche Verfehlung betrachte. Denn in unserer Familie war es nicht üblich, viel fernzusehen. Der samstägliche „Disneyclub war“ ein Ereignis für uns, ebenso wie das sonntägliche „Siebenstein“. Strafen für schlechte Noten oder Unartigkeiten äußerten sich zumeist in Taschengeldkürzungen – oder Fernsehverbot. Dementsprechend versessen war ich, als ich zum Jugendlichen heranreifte, das Verbot zu brechen und nachmittags heimlich fernzusehen. Ohne mir die Mühe zu machen, die Schuhe auszuziehen, ging ich oft direkt ins Wohnzimmer und erfreute mich an „California Clan“ [das zu schauen ich abbrach, als eine über mehrere Folgen angekündigte Überraschung sich als reichlich uninteressant erwies] und ähnlich Niveaulosem. Wenn ich meinen Vater an der Tür hörte, beeilte ich mich, in mein Zimmer zu stürmen und so zu tun, als wäre ich dort die ganze Zeit über fleißig gewesen.
Natürlich wußte mein Vater davon; hin und wieder ertappte er mich, und der Schmach der Erkenntnis, meine Zeit mit Sinnlosem verplempert zu haben, war groß genug, um mir eine Bestrafung zu ersparen.
Ich wurde ohnehin selten bestraft. Meine Verfehlungen bestanden zumeist darin, mit unsauberen Klamotten heimzukommen, weil ich wieder durch den Südpark gestrolcht oder in Kellern Abwasserleitungen gefolgt war. Oder ich erhielt Ermahnungen, weil ich nach der Schlafenszeit noch mit meinem Bruder quatschte oder weil ich heimlich, ohne Licht oder mit Taschenlampe, las.
Den größten Ärger erhielt ich vermutlich in der zweiten Klasse, als aufgedeckt wurde, daß ich in einer Musikkurzkontrolle betrogen hatte und unter die daraus resultierende 5 [Damals gab es noch keine 6.] die Unterschrift meiner Mutter gekrakelt hatte. Die Fälschung war gut – aber mit Filzstift geschrieben. Sie, und nicht der Betrugsversuch, war übrigens auch der Hauptgrund für den elterlichen Ärger.
Die Kindheit verlassend nahmen meine sowieso nicht sehr zahlreichen Verfehlungen erstaunlicherweise immer mehr ab. Ich bemühte mich, pünktlich heimzukehren, und wenn ich fünf Minuten zu spät kam, so war das akzeptabel. Ich probierte Alkohol, doch ohne großes Interesse, ohne Begeisterung finden zu können, überraschte meine Eltern nicht mit der Bekenntnis zu rauchen, weil ich diesbezüglich niemals meinem Vater folgen wollte, feierte keine orgiastischen Partys an Tagen elterlichen Abwesenheit, weil ich überhaupt nicht auf den Gedanken kam, derartiges zu tun. Ich kannte keine zwielichtigen Gestalten [bzw kannte welche, ohne sie erst nehmen zu können. Es fällt schwer jemandem, den man seit der ersten Klasse kennt und als albernes Kind in Erinnerung hat, abzunehmen, daß er mit Drogen handelt und auf den Chaostagen in Hannover verhaftet wurde.], und selbst meine erste Freundin, im Alter von 17, bildete keinen Nährboden für Konflikte.
Es liegt mir wenig daran, die wenigen Jugendsünden, die ich beging, zu glorifizieren, gibt es doch an diesen Aspekte, die mir bis heute unangenehm sind und an die zu denken ich mir häufig verweigere. Anderes habe ich längst in einer Geistesschublade verstaut, die ich nur hin und wieder aufziehe, um über meine damalige Unwissenheit zu schmunzeln – ebenso, wie ich in wenigen Jahren gewiß über meine heutige Unwissenheit schmunzeln werde…
[*] Vorne kurz, hinten lang
Also sind Sie auch so einer dieser Langweiler von Kindsbeinen an.
REPLY:
Genau. Total öde und uninteressant.