Diese kleine Geschichte las ich bereits vor. Live, vor Publikum.
Denn jeden 1. Sonntag im Monat trete ich zusammen mit den anderen Mitgliedern der Lesebühne EEASY READER im Celtic Cottage in Berlin-Steglitz auf und lese meinen Kram vor. Ihr dürft gerne beim nächsten (und übernächsten und überüber…) Mal dabei sein und lauschen, applaudieren und leckere Getränke konsumieren.
Wecker. Duschen. Anziehen. Frühstück. Zähneputzen.
Zahnpastaflecken.
Nochmal Umziehen. Schuhe, Jacke, Tasche, los.
Der Weg war immer der gleiche.
Die Uhrzeit war immer die gleiche.
Die Dame mit dem flauschigen, pinkelnden Hund an der Straßenecke war immer die gleiche.
Routine.
Ich konnte die Strecke zur U-Bahn mit verbundenen Augen laufen, im Traum entlangtanzen, kannte jeden Baum und jede fehlende Bodenplatte.
Routine.
Ich hatte sieben Minuten bis zur Abfahrt der Bahn, der Fußweg würde viereinhalb Minuten dauern. Fünf, wenn die Ampel rot war.
Die Bahn fuhr siebzehn Minuten. Neun Minuten später würde ich bereits die Bürotür öffnen.
Ich lag gut in der Zeit.
Routine.
Meine Schritte lenkten sich selbst, wichen Wurzeln aus, balancierten auf Rasenkanten, um wertvolle Sekunden zu gewinnen.
Meine Gedanken eilten voraus, planten die Route, antizipierten Hindernisse, schweiften ab.
Da begegnete ich dem Wal.
Es war ein Blauwal, da war ich mir sicher. Und er war riesig, fast monströs und beeindruckend schön. Ich hatte noch nie einen Wal gesehen, und nun, da er sich vor mir befand, konnte ich kaum begreifen, was ich sah: Einen Wal, einen echten Wal, mit blaugrauem, zerfurchten Leib, einem wissendem, mir zugewandtem Auge und einem enormen Maul, das mir plötzlich viel zu nah vorkam.
Der Wal war riesig.
„Du hast dich verlaufen.“, sagte der Wal – und mit überraschender Eleganz drehte er sich um und schwamm durch das kalte, klare Meereswasser davon.
„Was meinst du mit ‚verlaufen‘?“, wollte ich fragen.
Doch aus meinem Mund kamen nur Luftblasen.