Wo Stadtkind und Igel sich leise ‚Gute Nacht‘ sagen

Ich bin ein Stadtkind. Aufgewachsen inmitten von Neubauten beschränkten sich meine Naturerfahrungen auf den nahegelegenen Park [in dem immerhin hin und wieder Wildkaninchen zu sichten waren] und auf ein von Wanderpfaden durchzogenes Wäldchen, in dem ich zwar nie ein größeres Tier erblickte, aber hin und wieder einen Specht auf Holz klopfen hörte und ein paar Wildschweinspuren fand [Vermutlich hatte man eigens dafür ein paar Förstersgehilfen bezahlt, die dafür sorgen sollten, daß man sich in dem Wäldchen fühlen sollte wie in ursprünglich belassener, aber gefahrloser Natur.]. Ich war schon eine Weile aus meiner heimatliche Stadt weg- und in eine unwesentlich kleinere Stadt umgezogen, um mich dort meinem Studium zu widmen, als ich zum ersten Mal in meinem leben einen Igel sah.

Es war Nacht. Ich kam gerade von einer diskoähnlichen Veranstaltung, die zwar angenehm gewesen war, aber mich nicht sonderlich bewegt hatte und war drauf und dran heimzufahren. Zwanzig Minuten Radweg durch die Dunkelheit lagen vor mir – in steter Furcht vor der Polizei, die meine fehlende Beleuchtung sicherlich nicht gutheißen würde.

Ich schwang mich also aufs Rad und trat in die Pedalen. Ich hatte noch keine dreihundert Meter zurückgelegt, als ich eine Bordsteinkante übersah. Meine inexistente Vorderlampe hatte nicht ausgereicht, um mich vorzuwarnen, weswegen mein Vorderrad mit hoher Geschwindigkeit gegen die Kante fuhr, plötzlich in der Luft stand und dafür sorgte, daß ich aus dem Sattel auf die Betonplatten geschleudert wurde, die meinen Sturz nur unwesentlich abzudämpfen vermochten. Mein Rad torkelte noch ein paar Meter weiter und stürzte dann auch hernieder, wobei die ohnehin unnütze Vorderlampe endgütig zerbrach. Auch ich kam nicht ohne Schaden davon, hatte ein paar Kratzer am Ellenbogen und ein aufgeschürftes und schmerzendes Knie davongetragen.

Ich stand auf und entschloß mich, die nächsten paar Meter zu laufen, nicht zu fahren, solange, bis der Schmerz etwas nachgelassen hatte. So hatte ich das Fahrrad humpelnd gerade ein paar Meter neben mir hergeschoben, als mich eine durchaus gutaussehende, sympathisch wirkende, junge Dame ansprach:

„Tschuldigung. Weißt du, wo der nächste Zigarettenautomat ist?“
Sie deutete auf den sich hinter ihr befindlichen Automat.
„Der hier ist nämlich kaputt.“

In meinem Kopf spulte sich schon ein Gedanke ab, der mich zu erfreuen wußte: Ich würde ihr eine gehaltvolle Antwort geben, auf einen Automat in der Nähe verweisend. Sie würde, mit der Gegend nicht sonderlich gut vertraut, mit verlegenem Lächeln eine detaillierte Beschreibung wünschen.

„Warte, ich zeig’s dir.“, würde ich sagen und freundlich lächeln. Und die wenigen – denn allzu weit sollte der Automat wirklich nicht sein, sonst verginge die Lust, den weiten Weg dorthin auf sich zu nehmen – Meter bis zum Zielort würden mir Gelegenheit geben, sie ansatzweise kennenzulernen und womöglich die Basis für ein weiteres Treffen schaffen.

Ich grübelte, überlegte, strengte meine grauen Zellen an. Doch als lebenslanger Nichtraucher war mein Wissen über die Standorte von Zigarettenautomaten äußerst begrenzt. Mir fiel nichts ein. Kein einziger Automat. Mist.

Ich schüttelte verneinend mit dem Kopf, murmelte ein paar bedauernde Worte und sah ihr nach, wie sie schulterzuckend aus meinem Blickfeld verschwand.

Und während ich weiter meines Weges humpelte, fragte ich mich, ob Gott oder das Schicksal oder jedwede andere höhere Macht mich in diesen Augenblicken dafür strafen wollte, Nichraucher zu sein. Ich empfand es als ungerecht, daß mir, bloß weil ich als Rauchabstinenzler über die Zigarettenautomatenstandorte Magdeburgs nur unzureichend informiert war, die Gelegenheit genommen worden war, ein möglicherweise äußerst angenehmes Zwiegespräch mit einer nicht minder angnehmen Frau zu führen.

Sauer, vom Abend und von meinem gesamten Dasein enttäuscht, stieg ich – ungeachtet meiner noch immer existenten Schmerzen und der noch immer inexistenten Beleuchtung – auf mein Fahrrad und fuhr los, heimwärts.

Auf den Straßen war nichts los; keine Polizei, keine Menschen weit und breit [Damit will ich nicht behaupten, Polizisten wären keine Menschen.]. Es war angenehm zu fahren. Die kühle Nachtluft wehte durch meine Haare, von irgendwo erklang gedämpfte Musik. Ich radelte an der Elbe entlang. Die Stadtlichter funkelten verschwommen auf dem Wasser, versuchten vergeblich, so etwas wie Romantik in meine schlechte Laune einfließen zu lassen.

Plötzlich bremste ich scharf. Direkt vor meinen Reifen befand sich ein Igel. Ich hätte ihn nicht überfahren, doch wäre beinahe unbemerkt an ihm vorbeigerauscht, ohne ihn von seinem zweifelsohne gefährlichen Vorhaben abzuhalten. Schließlich war er gerade dabei, den Bordstein hinab auf die Straße zu klettern, die zwar im Augenblick frei zu sein schien, aber jeden Moment von jugendlichen Nachtrasern befüllt sein konnte.

„Was willst du dort, auf der anderen Seite?“, fragte ich ihn.
Tatsächlich warteten dort nur steinerne Bauten, nur staubiger Asphalt und hohe Bordsteinkanten auf ihn. Ich hockte mich hin. Ich hatte noch nie einen echten Igel gesehen. In Zoologischen Gärten ist es nicht üblich, solche wenig exotischen Säuger auszustellen, und meine bisherigen Naturerfahrungen hatten eine solche Begegnung noch nicht mit sich gebracht.

Der Igel war erstaunlich klein. Ich hatte mir diese Tiere etwas größer vorgestellt. Dafür jedoch wirkte er ziemlich niedlich. Wie mochten sich wohl seine Stacheln anfühlen?, fragte ich mich.

Noch immer zögerte er, wollte sich auf die Straße wagen und einem immensen Risiko aussetzen. Ein Auto brauste vorbei. Der Igel zuckte nicht zurück, war fest entschlossen.
„Nein.“, flüsterte ich und streckte die Hände aus, wollte den kleinen Igel in ihnen bergen und ins naheliegende Gebüsch setzen, war bereit, seine möglicherweise unangenehm spitzen Stacheln zu ertragen, um ihm das Leben zu retten.

Doch er ließ sich nicht retten. Kaum sah er meine Hände kommen, drehte er sich um und flitzte blitzschnell in das Gebüsch, zu dem ich ihn sowieso hatte befördern wollen. Weg war er.

Ich war beeindruckt von der immensen Geschwindigkeit des kleinen Tieres, erfreut von seiner Niedlichkeit und von dem Wissen, ihn trotz eines mißglückten Rettungsversuchs davor bewahrt zu haben, die gefährliche Straße zu überqueren.

Ich lächelte, als ich wieder auf meine Rad stieg, noch einen Blick auf das Gebüsch warf und dann weiterradelte.

Aller Schmerz in Knie und Seele war vergessen, und in der Elbe spiegelten sich matt die Lichter der Stadt.