Auf dem Heimweg waren meine Schritte stets länger, mein Gemüt stets leichter, die Strecke kürzer. Zu kurz, dachte ich manchmal, und änderte die Route, bog an falscher Stelle ab, folgte einem streunenden Kater, überquerte einen Bach, der mir bisher nicht aufgefallen war.
Hier traf ich Karl. Ich wusste nicht, wie Karl hieß, hatte es nie gewusst, hatte nie gefragt. Und doch kannte ich ihn, erkannte ich ihn, sofort. Obwohl sein Gesicht nicht mir zugewandt war, sondern dem gemütlich plätschernden Bach unter ihm, umkränzt von saftigen Halmen, die in seliger Unkenntnis von Rasenmähern glücklich gediehen.
Karls Blick war starr und galt nicht der erfrischenden Feuchte unter ihm, galt nicht dem grünen Wildwuchs, galt nur der Leere zwischen ihm und dem Boden, dem Abgrund, der keiner war.
“Ich würde sowieso nicht springen.”, sagte Karl, dessen Namen ich nie gekannt hatte. “Könnte ich nicht.”
Ich nickte. Erinnerte mich an Karl, nicht an seinen Namen, doch an Karl, an sein Büro, an seinen Schreibtisch, der immer ein bisschen zu ordentlich, zu leer, aussah, an seine Friseur, die den braunen Kamm immer ein bisschen zu viel mochte, und an den braunen Kamm, der immer in seiner rechten Gesäßtasche steckte.
Karl war kein Draufgänger, niemand, der sich gerne nach vorne stellte, der gern redete, die Blicke anderer auf sich zog. Nein, er saß lieber, blieb, wo er war, arbeitete, was er konnte, und wenn ihn jemand fragte, dann antwortete er.
Immer.
“Kaffee?”, fragte ich, zögerlich, und in mir erwachten vergessene Bilder, vergessene Dialoge, vergessene … Fragen.
Karl, der Kaffee hieß, der auf keinen Fall Kaffee hieß, drehte sich um.
Sein Haar lag nicht länger glatt auf dem Schädel, war rar geworden. Einige Falten hatten sein Gesicht gefunden und sich dort niedergelassen.
Doch seine Brille war noch immer dieselbe, sein magerer Schnurrbart war noch immer derselbe, ja, seine gesamte Kleidung erweckte den Eindruck, als hätte sie niemals länger seinen Körper verlassen, als für Reinigung, Trockenvorgang und akkurates Bügeln notwendig war.
“Kaffee?”, fragte ich noch einmal, hauchte es nur. Unsicherheit schlich sich in meine Stimme, raubte ihr den Klang. Niemand hieß Kaffee, auch Karl nicht, wurde mir bewusst. Bis ich mich erinnerte:
“KW?”, frage ich erneut, und es klang fast richtig.
Karl nickte. Es war ein Nicken gewordener Seufzer, und weitere Schichten Abwesenheit klebten sich auf seinen Blick. Er war nicht hier.
“Ich heiße nicht KW.”, erklärte er leise. Hatte mich nicht erkannt. War nicht daran interessiert, mich zu erkennen.
Wir hatten vier Jahre zusammengearbeitet, doch ich erwartete nicht, dass er mich erkannte. Karl erkannte niemanden.
“Nicht Kaffee, nicht KW. Mein Name ist Karl.”
“Karl.”, wiederholte ich. Der Name sagte mir nichts. “Hallo Karl. Was machst du hier?”
“Ich will mir das Leben neben.”, sagte Karl und deutete auf den Bach.
Das fröhliche Plätschern des Baches schien an Heiterkeit gewonnen zu haben. Vergnügt wippten die Grashalme, schienen uns liebevoll zu grüßen.
Hier gab es keinen Tod.
“Warum das denn … Karl?”, fragte ich, doch redete nur. Wühlte in meinem Kopf nach hilfreichen Fetzen verworfener Erinnerungen.
Der Name “Karl” fühlte sich falsch an, gehörte nicht zu Karl, gehörte nicht zu KW, lenkte mich ab.
“Weil ich unnütz bin. Nutzlos. Wertlos.”, sagte Karl, und ich hatte Mühe, ihm zu folgen.
“Weil mich keiner mehr fragt.”, sagte Karl, und mein Kopf leuchtete auf.
Ich erinnerte mich. Endlich!
“KW!”, rief ich. “Du warst der Kalenderwochenmann!”
Karl schnaubte. Offensichtlich wollte er nicht so genannt werden.
“Du warst der Kalenderwochenmann, wusstest immer, welche Kalenderwoche wir gerade hatten!”
“Ja, aber …”, begann Karl, doch ich war in meinem Schädel auf eine gleißende Goldmine gestoßen.
“Du warst immer da, jeden Tag, und immer fragten dich alle:
‘Hey KW, welche Kalenderwoche haben wir?’
Und du wusstest es immer! Immer!
Am Morgen, am Montag, selbst nach dem Urlaub. Immer!
KW, so nannten dich alle.
Wegen der Kalenderwochen!
KW, das warst du!”
Ich war begeistert.
Karl – nicht.
“KW sind meine Initialen. Ich heiße Karl. Karl Wagner. Hieß immer so.” Er tastete nach seiner Gesäßtasche. Fand keinen braunen Kamm.
“Ich hasste den Namen KW. Als ich ob nicht mehr war als ein wandelnder Kalenderwochen-Aufsager!”
Ich nickte. Konnte das nachvollziehen. Doch ich hatte ihn niemals Karl genannt. Und ich hatte in vier Jahren gemeinsamen Arbeitens nie über irgendwas geredet, ihn nie irgendwas gefragt – außer nach der aktuellen Kalenderwoche.
Oder der kommenden.
“Irgendwann war ich nur noch KW.”, sagte Karl. Seine Stimme wurde leise.
Schwer.
“Für alle. Der Typ mit den Kalenderwochen.”
“Aber darin warst du gut!”, rief ich glücklich. Die Erinnerung hatte mich komplett verschlungen. “Ich konnte dir irgendein Datum nennen, und immer kanntest du die KW!”
Karl wandte sich ab.
“Und das nicht nur von diesem Jahr.”, fuhr ich euphorisch fort. “Sondern von allen!”
Karl schwieg.
Ich schwieg ebenfalls, sah Karl an.
“Und was war dann?”, fragte ich vorsichtig.
“Dann kamen die Computer.”, sagte Karl. Seine Stimme war ein Flüstern.
“Und jedes Kalenderprogramm kannte die Kalenderwochen.” Stille Wut lag in Karls Worten. “JEDER kannte die Kalenderwochen!”
Ich nickte.
Die Welt hatte sich weitergedreht.
“Und was machst du jetzt?”, fragte ich, doch betrieb nur noch Konversation. Ich hatte Karl gefunden, KW gefunden, hier, in meinem Kopf, hatte mich erinnert, und das war genug. Am liebsten wäre ich weitergegangen. Nach Hause.
“Ich will mir das Leben nehmen.”, sagte Karl und blickte in den Abgrund. Der kein Abgrund war. Nur anderthalb Meter warme Frühlingsluft über einem heiter plätschernden Bächlein.
“Das bringt doch nichts.”, meinte ich, meinte ich ernst, doch spürte die Kraftlosigkeit in meiner Stimme.
Karl antwortete nicht.
Ich wartete. Wollte nach Hause.
“Gibt es irgendwas, das du gut kannst?”, fragte ich. “Irgendwas anderes als Kalenderwochen?”
Karl schwieg.
“Karl?”, fragte ich. Wollte gehen.
“Karl?”, fragte ich, doch Karl war nicht hier, war irgendwo gefangen hinter leeren Augen, unter schütterem Haar, und suchte.
“KW?”, fragte ich. Ein letztes Mal.
Karl erwachte, kam zurück.
“Ich habe ein gutes Gefühl für das Ende.”, sagte Karl schließlich.
“Was soll das heißen?”, fragte ich. Spürte eine leichte Neugier sich nähern.
Karl schmunzelte. Ich trat einen Schritt zurück.
Wir hatten vier Jahre lang zusammengearbeitet, und nie hatte KW geschmunzelt. Nie.
Kannte jede Kalenderwoche der Welt, aber lächelte nicht, schmunzelte nicht.
Schmunzelte jetzt.
“Zum Beispiel”, begann Karl. “weiß ich genau, wann eine Geschichte zu Ende sein sollte.”
“Was soll das heißen?”, wollte ich fragen. Doch fragte nicht. Hatte das schon gefragt. Fragte nicht.
Fragte anders:
“Wann denn? Wann sollte eine Geschichte zu Ende sein?”
Karls Schmunzeln wurde breiter, wärmer.
“Jetzt.”, sagte er und ging.
Ließ mich zurück.
“Was soll das heißen?”, rief ich ihm hinterher.
“Karl?”, rief ich. “Was soll das heißen?”
Nichts.
“KW?!?”, rief ich, so laut ich es vermochte.
Doch die Geschichte war bereits zu Ende.