Morgendlicher Ohrwurm 49: Aufstehen

Manchmal vergesse ich, dass ich Aufstehen mag. Ich mag es, nicht lange zu zögern und bereits bei den ersten Weckerlärmversuchen aus dem Bett zu fliehen und den gen Bad zu stürzen. Ich bin nicht wach, doch die Dusche ändert das. Langsam öffnen sich meine Sinne, und wenn ich Glück habe und mich die Müdigkeit nicht allzu sehr lähmt, gedeihen bereits die ersten Ideen in meinem Kopf.

Wohlig gewärmt und gründlich gereinigt schlüpfe ich in die Kleidungsstücke, die mein vergangenes Ich freundlicherweise bereitlegte. Ich danke ihm und genieße das Gefühl frisch gewaschener Stoffe auf meiner Haut. Ich beeile mich, nicht viel, nur genug, um der kühlen Luft, die durch die offene Terassentür in das Schlafzimmer und an meinen Körper dringt, keine Gelegenheit zu geben, mich frieren zu lassen.

Dann frühstücke ich. Ich lasse mir Zeit, liebe es, den Tag mit entspannter Ruhe einzuläuten, nicht alle kommenden Aufgaben umgehend nach dem Aufstehen auf mich einstürzen zu lassen. Und auch wenn das Frühstück nicht immer hochwertig ist und allzu oft nur Müsli in meinem Mund zermalmt wird, so reicht es doch, um mich angenehm zu füllen und das Gefühl zu bestätigen, dass dies ein guter Tag werden könnte.

Und dann finde ich den Ohrwurm in meinem Kopf, entdecke, dass es nicht einer, sondern zwei sind – und dass mir beide gefallen. Leise singe ich mit, springe von einem zum anderen Lied, von Katatonia Omerta“ zu Ethereal BlueGoliadkin“ und laufe vergnügt durch die erwachende Stadt.

Zwillinge

Aus der Ferne nahen die Lichter der Bahn, und wie von selbst setze ich mich in Bewegung. Gerade, als mich darüber wundere, zu solch früher Stunde bereits zu derartigen Laufgeschwindigkeiten fähig zu sein, schließt sich die Tür hinter mir und ich setze mich auf den erstbesten freien Platz. Mit gegenüber sitzt ein Mann, Anfang Vierzig, mit Strähnchen in den zurückgekämmten Haaren. Er liest in einem Brief, mehrseitig, Recyclingpapier.

Nach einer Weile steckt er ihn die seine Tasche zurück und holt einen zweiten, identisch aussehenden hervor. Er lacht traurig, öffnet ihn und sieht ihn an. Dann mich.

„Das sind Briefe vom Jugendheim. Ich soll zahlen. Ich hatte gestern Geburtstag, und jedes Jahr zu meinem Geburtstag bekomme ich diese Briefe. Tolles Geschenk.“
„Na denn. Herzlichen Glückwunsch.“, antworte ich halbironisch.
„Ich bin Amerikaner.“, erklärt er. „Meine Kinder sind 11. Zwillinge. Die Mutter ist gestorben, und ich darf die beiden nicht mehr sehen. Aber zahlen soll ich.“

Mosaikartig bricht sein Leben aus ihm heraus. Er lernte seeen Frau in den USA kennen, schwängerte sie, heiratete sie. Seine Kinder wurden an einem Schnapszahldatum geboren.
„Das sollte doch eigentlich Glück bringen.“, werfe ich ein, doch weiß, dass es das nicht tat.
Sie ließen sich scheiden, und weil die Frau Alkoholikerin war, verbrachten die Kinder viel Zeit im Heim. Vor fünf Jahren starb die Frau, vermutlich infolge ihrer Krankheit [Ihm wurde eine diesbezügliche Aussage verweigert.], und das Sorgerecht ging an das Jugendheim.
Nicht an ihn, den Vater. Weil er Amerikaner war. Ausländer.

Er hatte Besuchsrecht, durfte seine Kinder bis zu einem Tag pro Woche sehen. Die mütterlichen Großeltern hatten größere Befugnisse, doch das spielte keine Rolle. Eine Zeitlang machte er das mit, nahm Urlaubstage, fuhr Hunderte Kilometer durch Deutschland, um seine Kinder eine Stunde lang sehen zu können, kehrte dann zurück.

Er vermittelte seiner Tochter eine Brieffreundin, und ihm wurde vorgeworfen, dadurch einen Keil zwischen Heim und Kinder treiben zu wollen. Es gibt einen komplizierten Ausdruck dafür, doch ich habe ihn vergessen, sobald er ihn ausgesprochen hatte.

Nun besteht sein einziger Kontakt zu seinen Kindern in den Zahlungen, die er zu leisten hatte. Für sie ist er ein Fremder. Eine Geburtagskarte erhielt er nicht.

„Ich steige hier aus.“, sagt er und geht. Verstört bleibe ich zurück, bis ich bemerkt, dass auch ich aussteigen muss, und schlüpfe rasch durch die sich schließenden Türen hinaus ins Freie.

Morgendlicher Ohrwurm 48: All deine Liebe

Im Wohnzimmer dudelte immer das Radio und warf die besten Hits der Siebziger, Achziger und von heute in den Raum. Wenn ich meinen Vater fragte, wer dieses oder jenes Lied sang, bekam ich immer eine Antwort. Allerdings selten eine ernst gemeinte. „Manfred Mann’s Earth Band“ sagte er häufig, und ich musste erst erwachsen werden, um zu erfahren, dass dieser skurrile Bandname kein Produkt seiner Fantasie war.

Songs, deren Interpreten er immer erkannte, würde man heute vielleicht dem Classic Rock zuordnen. ELO und CCR waren Abkürzungen, die mich faszinierten, und als ich irgendwann verinnerlicht hatte, dass es sich dabei um Electric Light Orchestra und Creedence Clearwater Revival handelte, fühlte ich mich ein wenig stolz.

Mein eigener Musikgeschmack entwickelte sich, und es wurde offensichtlich, dass die Rock- und Hardrock-Vorlieben meines Vaters ihren Einfluss ausübten. Als ich irgendwann einer CCR-BestOf von Anfang bis Ende lauschte, stellte ich erfreut fest, dass mein Vater, wenn man von gelegentlichen Abrutschern zu BAP oder den Rolling Stones absah, offensichtlich durchaus gute Musik hörte.

Das Hallenser Beatles-Museum jedoch lieferte mir einen Schock. Auf einer Charttabelle aus dem Jahre 1969, in der irgendein Beatles-Album an der Spitze stand, befand sich „Green River“ von Creedence auf Platz 2. Auf Platz 2! Mein Vater war Mainstream gewesen, hatte Chartmusik gehört! Zwar erst Jahre nach der Veröffentlichung des Albums, aber trotzdem: Mein Weltbild schwankte.

Doch dann machte ich mir klar, dass die damaligen Möglichkeiten, „alternative“ Musik zu vernehmen, sicherlich beschränkt gewesen waren. Technikbedingt und überhaupt. Und dass CCR eindeutig gut waren, unabhängig von irgendeiner Tabellenposition.

Weniger gut hingegen waren ABBA. Meine Mutter erzählte mir einst, dass sie ABBA eigentlich immer gemocht hatte, und meine Weltbild geriet erneut ins Wanken. Das Wohnzimmerradio mochte ABBA, dudelte tagtäglich den einen und anderen Song vor sich hin, und jedes Mal befiel mich ein Gefühl leichten Ekels. Ich konnte es mir nicht erklären, doch ABBA war widerlich.

Und ist es bis heute. Als in den Neunzigern Ace Of Base als die neuen ABBA bezeichnet wurden, bloß weil sie auch aus Schweden stammten, vererbte sich meine ABBA-Abneigung umgehend. Und als ich heute früh erwachte, und ABBAs „Lay All Your Love On Me“ durch meinen Kopf tönte, verblieb mir nur, einen geplagten Seufzer in die Welt zu werfen und zu hoffen, dass der Tag andere Ohrwürmer bereithalten würde.

Mit meiner Mutter versöhnte ich mich übrigens schnell. Schließlich mag sie Deep Purple und neigt sogar bei finstersten Metalsongs dazu, nickend zu kommentieren: „Das klingt ganz gut.“

Morgendlicher Ohrwurm 47: Sehen und Hören

Schon in der zweiten Klasse wurde festgestellt, dass meine Sehfähigkeit brillenbenötigend schlecht ist. Wenn ich mir später, ohne Kontaktlinsen zu besitzen, selber eine Brille aussuchte, setzte ich mir beim Optiker das unbeglaste Gestell auf die Nase und trat bis auf zehn Zentimeter Abstand an den Spiegel heran – weil ich erst dann scharf genug sah, um das Aussehen beurteilen zu können.

Mittlerweile benutze ich Kontaktlinsen, „Haftschalen“, wie sie einst genannt wurden, und auch wenn der Weg zum Bad ein kurzer und mir bekannter ist, greife ich als erstes nach dem Aufwachen nach der Brille. Beziehungsweise als zweites. Zunächst widme ich mich dem Wecker. Dann stülpe ich mir das Nasenfahrrad über das Antlitz [Wuhuu! Weitere antiquierte Begriffe.], um die fünf Schritte in Richtung Kontaktlinsenbehälter zu überwinden und mir eine andere Art des Sehens einzuverleiben.

Bereits als Kind befürchtete ich, dass ich irgendwann erblinden könnte. Beziehungsweise ich versuchte, mich auf den Gedanken vorzubereiten, versuchte, mich schon während des Sehenkönnens an ein Leben ohne Augenlicht zu gewöhnen. Ich nahm mir die Angst. Beispielsweise liebte ich es [und liebe es noch immer], auf gerader, freier Strecke die Augen zu schließen und einfach loszulaufen. Es erstaunt mich immer wieder, dass ich meinen Rekord von ungefähr 40 Schritten nicht zu brechen vermag. Meine Fantasie spielt mir einen Streich, zaubert Bäume und Pfeiler auf den imaginierten Pfad, lässt mich vor Widerstände rennen und Schluchten hinunterstürzen. Selbst wenn eine Hand ein Brückengeländer entlanggleitet, meine Laufrichtung also gesichert ist, male ich mir unfreiwillig aus, wie Menschen mir entgegenrennen oder plötzlich der Asphalt unter meinen Füßen fehlt.

Wenn ich morgens aufstehe, verzichte ich auf Licht. Natürlich, der Badebesuch erfolgt lichtuntermalt, anders liefe eine Gesichtsenthaarung wohl kaum unbeschadet ab. Doch das Aufstehen selbst und auch das spätere Bekleiden erfolgen, sofern es die Jahreszeit zulässt, in morgendunklem Zimmer. Die Kleidungsstücke liegen bereit, und dennoch muss es ein unschöner Anblick sein, mich beim Ertasten des Sockenknäuels zu beobachten. Aber niemand sieht zu. Und selbst wenn: Es ist dunkel.

Ein Teil von mir erhofft sich, durch dieses morgendliche Verweilen in Finsternis noch ein wenig Restschlaf zu erhaschen, noch ein wenig Ruhe zu bewahren, bevor der Tag sich entgültig entfaltet. Und gleichzeitig setze ich fort, was ich vor Jahren begann, bereite mich, auch wenn es unnötig erscheint, darauf vor, irgendwann des Sehens nicht länger fähig zu sein, irgendwann durch dauerhafte Nacht schreiten zu müssen.

Immerhin hätte ich dann noch die Musik. Und mit ihr Ohrwürmer. Zum Beispiel jenen, der mich heute Morgen zum wiederholten Male fand – und dennoch, allein aufgrund seiner Schönheit, Erwähnung finden soll:

Fjara“ von Sólstafir.

Morgendlicher Ohrwurm 46: Zug und Strand

Verschlafen. Ein großes Wort für eine Sache, deren Bedeutung für mich kaum existiert. Schließlich bedarf es keines präzisen Zeitpunkts, zu dem ich meiner Arbeit nachzugehen habe. Ich habe freie Auswahl, und solange ich die erforderlichen Stunden erbringe, ist sogar mittägliches Auftauchen akzeptabel.

Wenn das Erwachen eine Stunde nach dem Weckerklingeln erfolgt, ist es also nicht Panik, die mich erfüllt. Nur ein Seufzen verlässt meine Lippen, bevor ich in derselben Geschwindigkeit wie jeden Morgen den Weg zum Bad suche, um mich dort der Reinheit und allmählichem Entmüden hinzugeben.

Allmählich spüle ich schläfrige Trägheit von meinem Leib. Ein Ohrwurm meldet sich plötzlich zu Wort, singt „Runaway Train“ in meinem Kopf. „Runaway Train“?, wundere ich mich, und mein noch dämmriges Denken braucht eine Weile, um nicht nur Melodie und Refrainfragmente, sondern auch den Interpreten hervorzukramen. Soul Asylum.

Mit der Erinnerung kommt auch die Erinnerung daran zurück, dass das Video damals lauter vermisste Kinder zeigte – und wohl erfolgreich ein paar von ihnen zurückbrachte. Und daran, dass ich den Song eigentlich nie mochte.

Als ich ein paar Minuten später Müsli in mein Antlitz schiebe, ist es plötzlich „Fjara“, das durch meinen Schädel wurmt. Sólstafir also. Schon wieder. Ich schmunzle zufrieden, und ein paar Haferflocken fallen mir aus dem Mund.

Begegnungen 55: Kreuzung

Ich wollte gerade die Strecke überqueren, als ich die Schnecke sah.
Sie kam von rechts, hatte also Vorfahrt. Ich hielt an und stieg vom Rad. Die Schnecke bewegte sich nicht.
Ich wartete. Die Schnecke bewegte sich nicht.
Ich wartete noch ein bisschen. Die Schnecke hatte eindeutig Vorfahrt. Sie kam schließlich von rechts.
Sie bewegte sich nicht.
‚Wahrscheinlich ist sie nur sehr langsam.‘, dachte ich.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
‚Sehr sehr langsam.‘, korrigierte ich mich in Gedanken.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
‚Andererseits‘, überlegte ich, ‚besteht die Schnecke hauptsächlich aus einem Haus. Und Häuser haben üblicherweise keine Vorfahrt.‘
Ich schaute die Schnecke an. Sie schien sich ein paar Millimeter vorwärts bewegt zu haben. Aber ich war mir nicht sicher.
‚Ich fahr jetzt einfach.‘, dachte ich und stieg auf mein Rad.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
„Ich fahr jetzt einfach.“, sagte ich vorsichtshalber, falls es sich die Schnecke noch einmal überlegen sollte.
Die Schnecke bewegte sich nicht.
Ich radelte über die Kreuzung, an der Schnecke vorbei – und wich im letzten Moment einem Frosch aus,
„Ey.“, quakte der Frosch. „Ich hatte Grün!“
Ich nickte einsichtig und wartete, bis der Frosch vorbeigehüpft war.

Morgendlicher Ohrwurm 45: Love is the Devil

[Dies ist nicht mehr als der Versuch, eine totgeglaubte Rubrik zu reanimieren, beziehungsweise wild und relativ zusammenhangslos vor mich hin zu schreiben.]

Wenn irgendwo ein Fernseher läuft, habe ich Schwierigkeiten wegzusehen. Gesprächsverläufe leiden, bloß weil hinter meinem Gegenüber ein Bildschirm flackert. Vor dem Fernseher einzuschlafen, vermag ich nicht – und das nicht nur, weil ich keinen Fernseher besitze.

Seit kurzer Zeit besitze ich aber eine für mein Telefon geeignet Lautsprecheruhr. Radioweckeresk wird mir die Zeit angezeigt (was mir Halbblinden erst bei Minimalentfernung von Nutzen ist), und wenn ich den im Telefon integrierten Musikabspieler mit den Lautsprechern kombiniere, ertönen erquickliche Klänge in ebensolcher Qualität.

Hörbücher böten sich an, vor dem Einschlafen vernommen zu werden, bis der Geist selig von dannen schlummert. Doch Hörbücher sind Fernseher für die Ohren. Stundenlang läge ich wach und lauschte dem Vorgelesenen. Oder ich verlöre die Geduld und schaltete das Gerät manuell ab. An ein sanftes Wegnicken wäre nicht zu denken.

Mit Musik klappt es. Manchmal. Wenn meine Stimmung der des Lautguts entspricht. Wenn sie leise genug ist, um nicht zu stören. Wenn ich den Text nicht gut genug kenne, um mich ständig davon abhalten zu müssen, um Geiste mitzusingen. Wenn die Müdigkeit mich bereits zu zwei Dritteln verspeiste und mir meine Umgebung relativ egal wurde.

Dann klappt es. Dann kann ich den Geist treiben lassen und zu angenehmer Abendausklangsmelodie in den wohlverdienten Schlaf gleiten. Dann kann ich mich in den letzten Wachminuten noch entspannt und erfreut dem Ohrenschmaus hingeben und jeden Gedanken durch Lieblingstöne ersetzen lassen. Dann klappt es.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass ich manchmal nach dem Aufwecken – für das abermals die Telefon-Uhr-Lautsprecher-Gerätekombination zuständig ist – Restklänge in mir herumtrage, einen Ohrwurm in mir entdecke, der mich unter die Dusche begleitet und somit den neuen Tag einläutet.

Gestern lauschte ich dem Neuwerk der isländischen Band Sólstafir. „Svartir Sandar“ heißt das Album, und begeistert mich nicht weniger als dessen Vorgänger „Köld“. Doch nicht einmal das erste Lied „Ljós o Stormi“ hatte ich vollständig anhört. „Tut mir Leid.“, hatte ich gemurmelt und mich der Übermacht des Schlafes hingegeben.

Dennoch blieb mir Sólstafir im Kopf und begrüßte mich beim Erwachen. Allerdings haben meine Isländischkenntnisse einen Hang zur Nichtexistenz, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich mein Kopf über Nacht klammheimlich ein englischsprachiges Lied vom Vorgängeralbum wählte, um es mir am Morgen als Ohrwurm zu präsentieren.

Love is the devil / and I’m in love“ sang ich also innerlich, und fragte mich, ob auch nur eine der beiden Zeilen wahr sei.

Begegnungen 54: Grashalm

Ich hatte gerade die Straße überquert, da begegnete ich eine Grashalm. Nun mag es nichts besonderes sein, einem Grashalm zu begegnen, doch dieser war anders. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht.
„Hallo.“, grüßte ich ihn vorsichtig, und der Grashalm wippte mir freundlich zu. „Hallo.“
„Du bist ein Grashalm?“, fragte ich, und Unsicherheit quoll mir aus jeder Silbe.
„Äh… genau.“, meinte der Grashalm. Er log, das hörte ich sofort. Lügende Grashalme erkenne ich aus zweieinhalb Metern Entfernung.
„Du lügst!“, rief ich.
Der Grashalm erbraunte. Eigentlich errötete er, doch in Anbetracht des vielen Chlorophylls war es ihm nur möglich zu erbraunen. Es sah aus, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert, und seufzte.
„Ich gebe es zu: ich bin kein Grashalm. Ich bin ein Löwenzahnblatt, das sich als Grashalm tarnt.“
Ich schaute mir den Grashalm noch einmal genauer an. Ein Löwenzahnblatt war er also. Aha.
„Glaub ich nicht.“, sagte ich.
Der Grashalm, der eigentlich ein Löwenzahnblatt war, seufzte erneut.
„Na gut.“, meinte er. „Ich gebe es zu. Aber sag es nicht weiter.“
Ich lauschte gespannt.
„Ich bin in Wirklichkeit ein Grashalm. Ein Grashalm, der sich als Löwenzahnblatt tarnt, das sich als Grashalm tarnt.“
Ich nickte. Das klang plausibel.
„Das klingt plausibel.“, sagte ich und verabschiedete mich.

Begegnungen 53: Böe

Als ich auf das Rad stieg, blies mir eine Windböe ins Gesicht.
„Ey!“, sagte ich. „Könntest du das bitte unterlassen?“
„Aber das ist mein Job.“, wisperte die Windböe.
„Mir ins Gesicht zu wehen?“
„Wehen im Allgemeinen.“, erklärte die Windböe. „Unabhängig von Orten.“
„Ach.“, sagte ich und überlegte.
Die Böe wehte fleißig herum und zerzauste mein Haar.
„Wenn dein Job aus Wehen besteht“, begann ich nach einer Weile. „Solltest du dich dann nicht um hochschwangere Frauen kümmern?“
Ich hatte noch nie Luft nicken sehen, doch die Böe tat es. Dann war es ruhig.
Ich lächelte und fuhr los. Ohne Gegenwind.

Begegnungen 52: Marienkäfer

Am Wegesrand saß ein Marienkäfer. Er hatte unter einem Blatt Schutz vor dem Regen gesucht und lugte nun, da der Himmel sich allmählich lichtete, vorsichtig darunter hervor.
„Hallo!“, begrüßte ich ihn, denn ich bin ein höflicher Mensch.
„Äh… Hallo.“, antwortete der Marienkäfert etwas zerstreut. „Ich habe keine Zeit zu plaudern. Muss jetzt los.“

Und schon hatte er seine Flügelchen ausgebreitet und war losgeflogen. Dort, wo er eben noch gesessen hatte, blieben nur sechs schwarze Krümel zurück.
„Krümel?“, wunderte ich mich und besah sie genauer.
„Punkte!“, erkannte ich und rief dem Marienkäfer hinterher: „Du hast deine Punkte vergessen!“

Wenige Augenblicke später saß der Marienkäfer erneut unter dem Blatt. Hastig sammelte er seine Punkte ein.
„Dankedanke.“, sagte er. „Ich bin in letzter Zeit so vergesslich.“
„Keine Ursache.“, wehrte ich ab.

„Jetzt muss ich aber los.“, meinte der Marienkäfer und breitete seine Flügelchen aus. Doch er blieb stehen und regte sich nicht.
Nach einer Weile des lautlosen Stillstehens fragte ich vorsichtig: „Wolltest du nicht losfliegen?“
„Bin ich doch längst.“, sagte der Marienkäfer, stutze und blickte an sich hinab. „Ich habe allerdings meinen gesamten Körper vergessen.“
Er schaute mich entschuldigend an und lächelte unsicher. „Ich bin in letzter Zeit so vergesslich.“

„Warte mal.“, sagte ich und kramte in meiner Innentasche. „Der hilft gegen Vergesslichkeit.“, sagte ich und reichte dem Marienkäfer einen siebten Punkt.
Der Marienkäfer war sichtlich entzückt. „Danke!“, freute er sich, und der Punkt sah großartig an ihm aus.

„Nun muss ich aber los.“, sagte der Marienkäfer, breitete die Flügelchen aus und flog davon.
„Allerdings weiß ich nicht mehr, wohin.“, hörte ich noch, dann war er verschwunden.