Sibyllenstraße 8

Es war Donnerstag Mittag, als es geschah. Genauer gesagt war es früher Donnerstag Nachmittag. Die Sonne hatte sich einen guten Platz zwischen den umherquirlenden Wolken erkämpft und blickte nun frohgemut auf das Erdentreiben herab, dorthin, wo Mittagsschläfchen ihr Ende nahmen, erste Schulkinder nach Hause gingen und der Würstchenverkäufer am Emilienplatz ein verdientes Nickerchen auf einer der von der Stadtsparkasse gestifteten Holzbänke hielt.

Doch nicht wann es geschah, war bedeutsam. Eigentlich spielte es noch nicht einmal eine Rolle, was überhaupt geschah. Wichtiger war, dass etwas geschah. Dass irgendetwas geschah.

Herr Konradi wohnte in der Sibyllenstraße 8, dem letzten Eingang am Ende einer Sackgasse, die, selbst wenn ihre Zufahrt nicht von unzureichend gepflegten Schneebeerenbüschen allmählich vollständig verdeckt zu werden drohte, durchaus leicht zu übersehen war. Herr Konradi empfing nicht oft Besuch, doch wenn er besucht wurde, dann von niemandem, der nicht unterwegs zwei oder drei Mal nachfragte, wo sich sein Hauseingang denn eigentlich befand. Der Nachfragerekord lag bei sieben, erinnerte sich Herr Konradi manchmal schmunzelnd.

Die Sibyllenstraße 8 war nicht lang, einhundertfünfzig Meter nur, bestand aus Kopfsteinpflaster, das zwar bereits aus den 60er Jahren stammte, aber erstaunlich unbenutzt aussah, und endete in einer monströsen rostroten Backsteinmauer. Die Mauer gehörte zum nebenan gelegenen Einkaufszentrum, dessen Besitzer es anscheinend guthieß, den Parkplatzbereich festungsartig mit Steinwerk zu umkränzen, so dass Herr Konradi, wenn er aus seinem Küchenfenster im Erdgeschoss hinaus nach rechts blickte, nichts weiter als die langweilige Schlichtheit sauber aufeinandergearbeiteter Backsteine zu sehen bekam, in deren Zwischenräume sich bis heute kein Pflänzchen vorgewagt hatte. Der Backstein war tot, hatte Herr Konradi schon viel zu oft festgestellt und dann geseufzt.

Überhaupt seufzte Herr Konradi viel. Wenn er aus dem Küchenfenster auf die Sibyllenstraße schaute, fanden seine Augen nichts, das er mit Interesse verfolgen konnte. Sechsundzwanzig Autos parkten in der Sibyllenstraße, davon besaßen erstaunlich viele einen blauen oder bläulichen Farbton. Neun Stück nämlich, zehn, wenn man den türkisfarbenen Volkswagen mitzählte, bei dem sich Herr Konradi allerdings nicht sicher war, ob er noch als Auto bezeichnet werden durfte, weil er sich seit mindestens viereinhalb Jahren nicht bewegt hatte.

Von den sechsundzwanzig Autos gefielen Herrn Konradi dreiundzwanzig. Der Volkswagen gehörte dazu. Gestern hatten hier noch neunundzwanzig Fahrzeuge gestanden, und Herr Konradi war sich sicher, dass eines der Differenzautos ein silbergrauer Fiat Punto mit Berliner Kennzeichen gewesen war. B-MK 175, um genau zu sein. Vielleicht aber auch B-MK 173. Bei MK war sich Herr Konradi ziemlich sicher, hatte er doch seine Initialen wiedererkannt.

Herr Konradi hatte die Autos in der Sibyllenstraße heute schon mehrere Male gezählt. Tatsächlich hatte er nicht nur die Autos gezählt, sondern auch die Male, wie oft er die Autos gezählt hatte. Als er die sechsundzwanzig Autos zum sechsundzwanzigsten Mal gezählt hatte, hatte er ein wenig geschmunzelt.

Ansonsten war nichts geschehen. Herr Konradi hatte aus dem Küchenfenster geschaut und absolut nichts beobachten können. Irgendein Nachbarsjunge hatte neulich ein Kaugummipapier vor dem Eingang der Sibyllenstraße 7 – das war der Eingang gegenüber – liegen lassen, dessen rote Farbe Herrn Konradis Blicke seit zwei Tagen immer wieder wie magisch anzog. Der nahende Herbst hatte ein paar Blätter von den Büschen am Straßenanfang hereingefegt, und Herr Konradi hatte ihre Anzahl auf vierzig geschätzt. Hinter der großen steinernen Mauer hatten vermutlich Fahrzeuge ein- und ausgeparkt, doch hatte Herr Konradi davon weder etwas gesehen noch etwas gehört. Er hätte sich vorstellen müssen, dass dort Menschen ein- und ausstiegen, Einkäufe erledigten, Kofferäume beluden und Radiosender wechselten, doch war dessen schon vor Jahren überdrüssig geworden.

Mehr war nicht geschehen.

Die Mauer bestand aus einer Menge Backsteinen, deren genaue Anzahl sich Herr Konradi immer geweigert hatte zu bestimmen. „Sollte ich einmal anfangen, die Steine in der Mauer zu zählen, kaufe ich mir einen Fernseher oder lasse mich einweisen.“, hatte er einmal zu einem Besucher gesagt und schmunzelnd ergänzt: „Was vermutlich das Gleiche ist.“

Kurz nach 10 Uhr hatte Herr Konradi geglaubt, dass sich die Gardine in der ersten Etage von Nummer 17 bewegt hatte, doch Frau Ampferberg, die dort mehr als zwanzig Jahre lang gewohnt hatte, war bereits im Frühjahr verstorben, und bisher hatte sich noch niemand gefunden, der die Wohnung beziehen und die alte vergilbte Gardine durch eine modernere, neuere austauschen wollte.

Viele Wohnungen in der Sibyllenstraße standen leer, und Herr Konradi vermochte nicht zu erklären, woran es lag. Die Sibyllenstraße war idyllisch, fast verwahrlost und einsam, doch der Emilienplatz war nicht weit, und dort bekam man alles, was man so für den täglichen Bedarf brauchte. Sogar Würstchen, dachte Herr Konradi und schmunzelte mal wieder.

Schmunzeln und seufzen – das ist alles, was ich tue, dachte er und seufzte.

Vor dem Küchenfenster geschah nichts.

Vor einer Woche hatte Herr Konradi ein Eichhörnchen gesehen. Kein rotes, ein graues, ein importiertes. Niedlich war es gewesen, erinnerte sich Herr Konradi, und auch daran, dass es über die Mauer geklettert war, bevor Herr Konradi Gelegenheit bekommen hatte, seine Brille aus dem Wohnzimmer zu holen und es genauer zu betrachten.

Gegen Mittag hatte der Wind ein wenig aufgefrischt, und Herr Konradi hatte kurz überlegt, ob er das Schlafzimmerfenster schließen sollte. Nicht, weil ihm kalt gewesen war. Nein, der Sommer war noch nicht ganz verschwunden, und an Winter war noch nicht zu denken. Doch die Schlafzimmertür neigte dazu, bei Durchzug zuzuschlagen, und womöglich könnte dadurch der Türrahmen in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich will den Türrahmen nicht ersetzen müssen, wenn ich hier einmal ausziehe, hatte Herr Konradi gedacht und seufzend das Schlafzimmerfenster geschlossen. Dann war er in die Küche zurückgekehrt und hatte aus dem Fenster geschaut.

Viel war nicht geschehen. Eigentlich gar nichts, wenn man es genau betrachtete.
Sechsundzwanzig Autos. Ein rotes Kaugummipapier. Ein paar Blätter. Und eine Mauer. Mehr nicht.

Vom Emilienplatz drang ein Geräusch herüber, doch bevor Herr Konradi es erkennen konnte, war es verklungen. Vielleicht ein Kind, vermutete Herr Konradi. Oder eine Katze.

Herr Konradi hatte bereits mehrere Male überlegt, ob er sich nicht eine Katze anschaffen sollte. Keine Rassekatze. Eine gewöhnliche, vielleicht mit graugeschecktem Fell und grünen Augen. Doch eigentlich war die Farbe des Fells egal. Und die der Augen erst recht. Eine Katze könnte draußen auf der Straße herumtollen, und ich könnte sie beobachten, hatte Herr Konradi schon häufiger gedacht, doch seine Überlegungen nie zu Taten werden lassen.

Vor ein paar Jahren hatte Frau Ampferberg von ihrer Katze erzählt. Nur kurz, und als Herr Konradi gesehen hatte, dass ihr die Tränen in den Augen standen, hatte er rasch das Thema gewechselt. Frau Ampferbergs Katze hatte Konrad geheißen, erinnerte sich Herr Konradi nun und schmunzelte. Ein schöner Name für eine Katze. Für einen Kater, um genau zu sein. Er war überfahren worden. Hier in der Sibyllenstraße. Konrad der Kater. Herr Konradi konnte es bis heute nicht glauben.

Also keine Katze, beschloss Herr Konradi zum wiederholten Male und schaute weiter aus dem Küchenfenster. Keine Katze, die die Straße bespielte. Keine Katze, die hin und wieder miaute und die Stille vertrieb. Keine Katze. Herr Konradi seufzte.

Die Mauer, das hatte Herr Konradi festgestellt, war etwa siebeneinhalb Meter hoch. Vielleicht auch 7 Meter 80. Und nirgendwo auf ihr wuchs Efeu. Oder Moos. Sie bestand aus einer Menge Backsteine.

Der Nachmittag brach an, die Sonne suchte sich zwischen den umherquirlenden Wolken einen guten Platz und blickte frohgemut auf das Erdentreiben herab. Herr Konradi stellte sich vor, wie Mittagsschläfer sich von ihren durchgelegenen Couchen erhoben, wie erste Schulkinder ohne Eile nach Hause gingen und wie der Würstchenverkäufer am Emilienplatz sein verdientes Nickerchen hielt.

Und dann geschah es.
Inmitten der Sibyllenstraße.

Zerbrach die Stille. Zerschmetterte die Reglosigkeit. Zerfetzte die träge Unbewegtheit.
Etwas geschah.

Plötzlich liefen Menschen umher, wunderten sich, Geräusche tönten aus Mündern und Maschinen, die Sibyllenstraße wurde für einen Augenblick zum Fokus des Geschehens.

Dann war es vorbei, und die altbekannte Ruhe kroch in ihre Heimat zurück. Herr Konradi saß im Wohnzimmer und blätterte in einer Broschüre über Fernseher. Er hatte nichts bemerkt.