Ich bin mir dessen bewusst, dass sich die wundergute Serie „MiSt – Morast in Stuttgart“ in letzter Zeit vorrangig mit nachtlebigen Lokalitäten befasste, doch verspreche ich, dass alsbald auch tagsüber besuchbare Sehenswürdigkeiten der schönsten aller baden-württembergischen Landeshauptsädte textliche Erwähnung finden werden. Und so.
Das Prag sei nur kurz beschrieben, denn schließlich beschloss es, nachdem ich es einmal besucht hatte, zu sterben. Ich fühle mich ein wenig schuldig. Immerhin gibt es bereits einen Nachfolger, das Lehmann, irgendwo in der Stadtmitte angesiedelt, das ich mir aber aus verständlichen Gründen noch nicht zu besuchen traute.
Das Prag befand sich am Pragsattel, mit diversen U-Bahnen umstandslos erreichbar. Nur das Wegkommen war erschwert, zumindest, wenn man nicht wusste, dass man den Nachtbus zu nehmen hatet bzw dessen Abfahrtszeiten nicht kannte und dementsprechend bei winterlichen Temperaturen mit der Frage haderte, ob es sich lohnte, Geld in eines der wartenden Taxis zu investieren.
Doch glücklicherweise hatte ich als gerade Zugezogener irgendwen gefragt und wusste zumindest um die Existenz von Nachtbussen und um ihre Abfahrtszeiten am Schlossplatz. Ich brauchte also nur die Pragsattel-Schlossplatz zu schätzen, ein wenig Wartepuffer zu addieren und – weil ich keine Ahnung von den Dimensionen der Busstrecke oder Stuttgarts hatte – 15 Minuten zu früh an der Haltestelle zu stehen. Immerhin funktionierte das anschließende Umsteigen problemlos, und alsbald war ich heimgekehrt in dem Wissen, dass sowohl der Nachtverkehr benutzbar als auch das Prag besuchbar ist.
Doch ich fange am besten am Anfang an.
Ich war gerade nach Stuttgart gezogen; mein heimisches Internet erfreute sich noch umfangreicher Nichtexistenz und schickte mich in regelmäßigen Abständen in innenstädtische Internetcafés, um nicht nur dort meine Comics aktualisieren, sondern auch die kulturellen Möglichkeiten meiner neuen Heimat zu erfragen.
Das Prag lockte mit einer Metallnacht, und allein seine gute Erreichbarkeit war es, die mich überzeugte, kurz vor Mitternacht in eine U-Bahn zu steigen und anschließend zwei unhell gekleideten, weiblichen Wesen dorthin zu folgen, wo rauchende Eingangsmarkierer ihr abendliches Werk vollbrachten. Es ging nach unten, in den Keller, in mangelhafte aber ausreichende Beleuchtung, in nichtrauchende Menschenmengen und Getöns aus hardcorigem Metal.
Ich fand die Bar, ich fand die Toilette, ich fand lederne Sitzmöglichkeiten, ich fand eine zweite Bar, alles im selben Raum, nur durch Pseudowände getrennt, ich fand – natürlich – die Tanzfläche, die zwar eine unfreundliche Säule in der Mitte besaß, aber gut besucht war.
Ich fand heraus, dass die heftige, aber nicht sehr finstere Musik von zahlreichen ebensowenig finster Gekleideten genossen wurde, entdeckte aber genug true Metaller, um nicht beunruhigt zu sein. Schließlich hatte sogar ich einen Kapuzenpullover mit Fred-Motiv an, war also keineswegs ein eviles Vorbild.
Was ich nicht fand, war die Garderobe. Ich irrte umher und befragte schließlich gegen den Erwerb einer großen Cola die äußerst freundliche Barfrau, die in eine düstere Ecke verwies. Dort existierten tatsächlich Kleiderständer, aber keine Bewacher, die mir im Austausch gegen Kleingeld Papierfetzen schenkten. Ungut, dachte ich, befanden sich an mir doch nicht nur der erwähnte, warme Fred-Pullover, sondern auch noch eine dicke Winterjacke und ein mit Einkäufen befüllter Rucksack, ganz abgesehen von Telefon, Geld und Schlüsseln.
Ungeachtet meiner unlängst gemachten Winterjackenverlusterfahrung in Magdeburg legte ich es drauf an, klaubte nur das Wichtigste aus den Taschen und positionierte mein Gut an einem unauffälligen Haken, das Beste hoffend und später immer mal kontrollierend.
Die Lokation an sich besaß eine gemütliche Größe und wirkte ein wenig heruntergekommen. Die Toiletten waren nur dem Notfall vorbehalten, und Gespräche waren nur außerhalb des Gebäudes möglich. Dennoch fühlte ich mich wohl und staunte, wieviele Songs von ein- und derselben hardcoremetallischen Musikrichtung hier hintereinander gespielt wurden.
Ich stand eine Weile herum, hielt mich am Glas fest, platzierte mich dann auf den Ledermöbeln, lauschte den Klängen, auf bessere hoffend. Mir gegenüber sprangen bei jedem zweiten Lied zwei Gestalten auf, besser: Nur eine sprang auf, und die andere, offensichtlich ein Mitläufer, lief hinterher. Neben mir schafften es zwei feminine Wesen mit tätowierten Armen, den Krach zu übertönen und sich zu unterhalten.
Und plötzlich ertönten Känge, die ich kannte: Sepultura! Zwar fand ich Sepultura nie sonderlich begeisterungswürdig, doch sowohl ihren Klassiker „Roots“ als auch die Kooperation mit KoRn „Ratamahatta“ kann ich durchaus gutheißen. Doch ich sprang nicht auf, schüttelte nicht mein Haupthaar, wagte noch immer an eine musikalische Annäherung an meinen Geschmack zu glauben. Und tatsächlich: Wenige Lieder später lärmte es erneut bekanntermaßen durch den Raum: Otep! Diesmal hielt mich nichts und niemand. Ich stürmte zur Tanzfläche, ignorierend, dass ich der einzige Nutzer selbiger war, riss mir die Brille vom Gesicht und ließ mein Haupthaar wirbeln, begleitet von dem keineswegs weiblichen Gegrunze der Otep-Sängerin.
Danach plumpste ich innerlich grinsend in die Polster und wartete darauf, dass das nächste Schönklang mich erreichen würde. Ich wartete. Und wartete. Und wartete. Als mein Gutelauneakku sich bedrohlich dem Negativbereich näherte, entdeckte ich eine sympathisch aussehende, allein herumstehende Dame, die ich spontan mit mir belästigte.
„Kommt hier immer dieselbe Musik?“, fragte ich, auf ein Nein hoffend, noch immer, ungeachtet aller Realitäten, an mögliche Abwechslung glaubend.
Sie sah mich fragend an. „Wieso? Was hättest du denn gern?“
„Naja irgendwas, das nicht so … hardcorig ist.“
Sie überlegte kurz.
„Ich war vorhin drüben, aber da lief auch nur Black Metal…“
„Moment.“, warf ich ein. „Es gibt ein Drüben?“
Sie nickte, zeigte mir den Weg: An der Toilette vorbei, durch eine kleine Tür.
Ich stand vor einem Dilemma: Wollte ich die Lokation ändern, in der Hoffnung, an anderem Ort bessere Musik zu vernehmen, dort vielleicht in erhöhter Frequenz auf die Tanzfläche gelockt zu werden? Oder wollte ich hier bleiben, mit ihr reden, die ich nicht kannte, die jedoch interessant genug wirkte, um mit ihr reden zu wollen? Wollte ich verweilen, inmitten von Ungutlärm, über den Krach hinweg Kommunikation versuchen, mich krampfhaft bemühen, ein unverfängliches und doch amüsantes Gesprächsthema zu finden, mich nicht aufdrängen, aber doch zugleich bemerkbar machen?
Ja! Ich will bleiben!, rief alles in mir, doch ich war schon „drüben“, den einfacheren Weg begehend, der Hoffnung auf bessere Musik folgend. Vergeblich.
Sicherlich, hier hausten „echte“ Metaller, so wie ich sie kannte, bangten zu schwarzmetallischem Rauschklang bei viel zu viel Licht auf kleiner Tanzfläche. Sicherlich, es lief kein Lied, das mich abschreckte oder genervt seufzen ließ. Aber es kam auch nichts, was ich kannte, nichts, was mich dazu bewegen konnte, mich zu bewegen, nichts, was ich irgendwie als Bleibgrund erachtet hätte.
Ich ging zurück, einen Gesprächsanknüpfpunkt ersinnend. Doch sie war nicht mehr da.
Natürlich, dachte ich enttäuscht, holte meine glücklicherweise noch immer existente Garderobe ab ung verließ das Prag in Richtung Haltestelle.
Was dann geschah, schrieb ich bereits. Oben.