Wenn ich Stuttgart als meinen derzeitigen Wohnort angebe, schaffe ich es, gleichzeitig zu lügen und die Wahrheit zu sagen. Denn tatsächlich wohne ich einem mit eigenem Markt und Einkaufzentrum ausgestatteten Vorort Stuttgarts, der vom Stadtkern getrennt ist, aber dennoch zur baden-württembergischen Landeshauptstadt gezählt wird. Zwischen mir, also dem Ort, an dem ich sitze und diesen Text tippe, und der Innenstadt, also beispielsweise dem Hauptbahnhof, liegen jedoch ein paar U- beziehungsweise S-Bahnminuten, die nicht nur mit Gleisen beziehungsweise Straßen gefüllt sind, sondern auch mit Wald.
Jedoch dürfte bekannt sein, dass Stuttgart trotz schwäbischer Fröhlichkeit [Ich entschuldige mich im Voraus für den nun kommenden schlechten Wortwitz.] eine Weinstadt ist, und dass Weinstöcke üblicherweise in ab- beziehungsweise aufschüssigen [kommt darauf an, in welche Richtung man läuft] Gebieten wachsen.
Ich drücke es mal so aus: Es gibt einen Grund dafür, dass der Fahrradkeller nicht von Stadträdern, sondern vielgangigen, profilreifigen Mountainbikes bevölkert wird und dass ich zur Arbeit mit dem Rad bei ausreichend regelignoranter Fahrweise auf dem Hinweg zehn, auf dem Rückweg etwa zwanzig Minuten brauche.
Dessen ungeachtet spürte ich den Gedanken in mir keimen, den mittelgut bewetterten Sonntag dazu zu nutzen, die mich umgebenden Baumansammlungen mit dem Fahrrad erkunden, frei von Stadt- oder Routenplänen, gepäck- und sorglos.
Ich liebe mein Fahrrad. Es hat bereits mehrere Jahrzehnte auf dem Rahmen, doch vermochte es, mich und dreißig Kilogramm Gepäck unversehrt und fröhlich 500 Kilometer durch die Niederlande zu tragen. Ich liebe es, weil es nicht so aussieht, als besäße es überhaupt eine Gangschaltung, und weil es dementsprechend mit einer altmodisch wirkenden aber tadellos funktionierenden 3-Gang-Nabenschaltung zu überraschen weiß. Ich liebe es, weil es ein wenig antiquiert ist, ein wenig mitgenommen wirkt, aber mich zuverlässig mit kleinen oder großen Geschwindigkeiten an jedes Ziel bringt.
An Stuttgarts Wäldern jedoch scheiterte es. Beziehungsweise ich scheiterte, denn das Rad kann nichts für meine Unfähigkeit, kilometerlange Extremsteigungen anstrengungsfrei zu bewältigen.
Anfangs war alles noch gut. Der Wald war arm an Laub, doch reich an Feuchtigkeit, und ich bemühte mich, auf den breiteren Wegen zu bleiben, die allesamt „Seufzerallee“ oder ähnlich albern benamt waren. Hin und wieder stieß ich auf einen Wegweiser, der mich zu Zielen wies, von denen ich noch nie gehört hatte, doch wenn ich ihnen folgte, waren sie an der nächsten Kreuzung nicht länger bereit, mit Rat und Hinweis zu glänzen. Statt dessen las ich Namen wie „Teufelswiesen“, wo überhaupt keine Grünfläche zu finden war. Auch gab es farbige Wegesmarkierungen, doch da ich bewusst vorwissensfrei in diese Tour gestartet war, halfen sie natürlich ebensowenig wie die zahlreichen Jogger, die Vogelgesang und Waldesluft ignorierend ihrer Atmung lauschten und den Weg vor ihren Schuhe beobachteten. Ebensowenig halfen die zahlreichen Hunde, die ihrer Angst vor Zweirädern teilweise mit dezibelstarkem Gebell Ausdruck verliehen. Und dass der Wald von etlichen kleinen und größeren Pfaden durchkreuzt wurde, die es unmöglich machten, in irgendeine Wildnis zu geraten, waren ebenfalls wenig unterstützend, da doch jede Kreuzung eine erneute Entscheidung abverlangte.
Was dagegen half, doch zugleich missfiel, war die Straße. Zu meiner Linken rauschte es immerfort, und ich wunderte mich ein wenig, wie es sein konnte, dass ich durch ein Naturschutzgebiet radelte, das derart intime Nähe zu Autobahnigem besaß. Immerhin war es, selbst wenn ich die Orientierung verloren hätte, dadurch nahezu unmöglich, sich zu verfahren.
Ich radelte, und tatsächlich brachte es mir Freude, Schlammpfützen auszuweichen und über belaubte Weg zu flitzen. Abzweigungen wählte ich spontan, und nicht selten suchte ich diejenige Alternative, auf der ich gerade niemanden entdecken konnten.
Es ging bergab, was mich wenig erstaunte, wohnte ich doch anscheinend oberhalb von wirklich allem. Ich war schnell unterwegs, bremste bei Hunden, bremste bei Pfützen, bremste in scharfen Kurven, bremste an Kreuzungen. So konnte es ewig weitergehen, dachte ich, wählte eine andere Richtung und trat noch ein wenig stärker in die Pedale.
Zwischendurch hielt ich an einigen der kartenartigen Orientierungshilfen, die jedoch nicht weiterhalfen. Es war vielleicht eine gute Idee gewesen, eine Art Relief zu schaffen, bei dem die Tiefe der Gravierung anscheinend für die Ausgebautheit des Weges stand. Es war auch schön anzusehen, dass Wege mit absonderlichsten Namen überall zu verlaufen schienen, dass es zahlreiche Aussichtspunkte und Raststätten gab, ja, dass der Wald im Allgemeinen vollgestopft war mit Orientierungspunkten und spannendem Zeugs. Interessanterweise gelang es mir jedoch nicht, Legende und Karte in Einklang zu bringen. Wenn ich also den Wanderweg vom Schloss zum Schössle zu entdecken versuchte, scheiterte ich. Vielleicht lag es an mir und meiner Benachteiligung, was das Erkennen roter Linien auf waldgrünem Grund angeht. Vielleicht lag es aber auch daran, dass jede einzelne dieser Karten anders ausgerichtet war. Mal war Norden links, mal oben rechts, mal unten. Ich begriff nicht, nach welcher Systematik die Karte jeweils gedreht war, doch sehr schnell, dass ich nicht imstande war, diese Karte zu lesen. Also verließ ich mich auf meinen Orientierungssinn und das Rauschen zu meiner Linken.
Eine weitere Kreuzung erreichte mich. Ich hatte mir bereits eine hohe Geschwindigkeit zu Eigen gemacht und musste mich rasch entscheiden. Vier Wege standen zur Auswahl, doch wenn ich den einen, von dem ich heranbrauste, und den anderen, der Richtung Straße führte, abzog, blieben nur nich zwei Möglichkeiten: Ein schmaler, stark belaubter, vermutlich unebener Weg – oder eine beqeme, breite Strecke, auf der sich jedoch ein Pärchen vergnügte.
Der schmale Pfad ging steil bergab. Ich grinste und wusste genau, dass mein Rad für solche Strecken eindeutig ungeeignet war. Der Boden war feucht, zu großen Teilen matschig, und wenn ich mit altmodischem Rücktritt bremste, schlug das Hinterrad aus. Es war steil genug, dass ich den Rücktritt irgendwann kontinuierlich betätigte, nur um die Geschwindigkeit annähernd beizubehalten. Alsbald musste ich auch die Vorderbremse einbeziehen, und ich war dankbar dafür, dass ich den umgestürzten Baum bereits längst gesehen hatte, bevor ich ihn erreichte, denn hätte er sich hinter einer der zahlreichen winzigen Kurven befunden, wäre ich vermutlich zusammen mit meinem Gefährt umgehend die Böschung hinunterstürzt.
Doch meine Angst galt nicht dem Sturz, galt nicht irgendwelchen Verletzungen, galt nicht dem Schlamm, der mich und mein Transportmittel verunzierte, galt nicht den zahlreichen Hindernissen, von denen irgendeines mein Rad ernsthaft beschädigen konnte. Meine Angst galt einzig und allein der Rückfahrt, auf der ich den gewaltigen Höhenunterschied wieder wettmachen müsste. Und wie ich vermutete, würde dies keineswegs mit schonend sanfter Steigung möglich sein.
Der Weg fand irgendwann sein Ende in einer Wiese, die „Vogelwiese“ hieß, von Kleingärtnerei umegeben war, Blick auf die autobahnige Straße und deren Tunneleinfahrt bot, doch ansonsten keinerlei richtungsweisende Merkmale besaß. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten und wählte die, die weg von der Zivilisation [allerdings hin zur Rauschestraße] Richtung Heimat führte. Bergauf natürlich, doch zunächst noch gemächlich. Als ich mal wieder einen bellenden Hund überholt hatte, entschied sich der Weg, allmählich steiler zu werden und sich dann zu gabeln. Erstaunlicherweise fand ich zwei Wegweiser. Der nach rechts führende Pfad war für Fahrräder wie das meinige offensichtlich ungeeignet. Er war winzig und führte steilst bergauf – in Richtung irgendeines Sees. Die Alternative war eine Fortführung des bisherigen Weges, breit genug für mich, nicht allzu steil und zur irgendeinem Brunnen führend.
Ich erreichte den „Brunnen“ wenige Minuten später. Unästhetische Betonitäten hatten das aus dem Berg sprudelnde Wasser aufgestaut, so dass man sich tatsächlich badenderweise in einem Miniaturbecken vergnügen konnte – wenn es nicht nur sieben Grad Celsius draußen gewesen wären.
Na toll, seufzte ich, und gleich darauf ein zweites Mal: Der Weg war zu Ende. Das kann doch nicht sein, dachte ich und stieß bis zu dem Punkt vor, an dem ich direkt vor dem Berg stand. Hier hätte es weitergehen müssen, doch tat es das nicht. Mist.
Wieder hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte zurückfahren, dem bellenden Hund erneut begegnen und dann jenen Weg nehmen, den ich zuvor als unbefahrbar klassifiziert hatte. Oder ich schnappte mir mein Rad und trug es einfach nach rechts den Berg hinauf, durch den Wald, dorthin, wo erwähnter Weg theoretisch langlaufen müsste.
Ich entschied mich für b), und während ich mich Fahrrad tragend dem Berg näherte, wurde mir klar, dass die Wahrscheinlichkeit, mich an diesem Berghang hinzulegen und einzusauen, auch ohne schweres Fahrrad und mit zwei unterstützenden Händen anstelle von einer enorm groß gewesen wäre. Und tatsächlich: Kaum hatte ich zwei Mal gedacht, dass ich jeden Moment stürzen würde, stürzte ich. Nicht viel, nur genug, um Knie und linken Arm zu beschlammen und ein wenig zurückzurutschen. Doch ich gab nicht auf, suchte kundigen Blickes den einfachsten Weg hinauf, zog mich Schritt für Schritt voran – und landete tatsächlich auf dem erwähnten unwegsamen Weg, der mir plötzlich erstaunlich begehbar vorkam.
Ich schrieb „begehbar“, denn an eine Fahrradfahrt war nicht zu denken. Und so schob ich mein Rad bergauf, hörbar außer Atem und verrückt grinsend. Wenn „aspirieren“ „ansaugen“ bedeutet und „trans-“ „durch“, dann saugte ich in den Augenblicken wohl ordentlich durch. Meine Hose war dreckig, doch das kümmerte mich nicht. Hauptsache, dieser elende Anstieg fand bald ein Ende.
Irgendwann war es dann soweit. Ich gelangte an eine dieser von Irren angefertigten Relief-Umgebungskarten und versuchte gar nicht erst, mich an ihr zu orientieren. Ich wählte irgendeinen Weg, der befahrbar aussah und in Richtung des Waldes führte, und trat in die Pedale. Es ging bergauf, und obwohl die Steigung nicht sehr steil war, spürte ich, wie ich langsamer und langsamer wurde und schließlich Geschwindigkeiten erreichte, für die mich höchstens noch gelähmte Schnecken bewundert hätten. Tatsächlich kam mir, während ich in der Pedale stehend dem baldigen Ende des derzeitigen Hügels entgegenkeuchte, ein Mountainbiker entgegen, der aber mein verzerrtes Grinsen nicht erwiderte, sondern ignorant vorbeiradelte. Arsch!, dachte ich und kämpfte weiter.
Irgendwann wurde der Weg wieder besser, und bald gelangte ich an eine Stelle, die mir bekannt vorkam. Moment, dachte ich, hier bin ich doch auf diesen schmalen, kleinen, steil abwärts führenden Schlammpfad abgebogen! Und selbstverständlich wählte ich nun eine andere Richtung, nämlich die, aus der ich ursprünglich gekommen war. An der nächsten Abweigung stieg ich ab. Ich verließ das vertraute Gelände erneut, stopfte mir ein Lakritzbonbon in den Mund und schob mein Fahrrad bergauf. Für heute hatte ich genug aufwärt gestrampelt.
Bald hatte ich genug vom Schieben und fuhr noch ein wenig. Ich gelangte ich eine bewohnte Gegend und beschloss, den Wald endgültig zu verlassen. Hier sind die Wege besser, dachte ich beglückt, vergaß jedoch, dass auch Straßen Höhenunterschiede besitzen. Nur wenige Augenblicke später kämpfte ich mich erneut transpirierend und keuchend bergauf.
Dann war es vorbei. Ich durchquerte die Siedlung mit vor Schmutz starrender Kleidung, durchgeschwitzt und Bonbon lutschend, einhändig die ebenen Straßend genießend. Als ich das Fahrrad verstaut hatte, setzte ich mich erst einmal. Ich war nicht weit gekommen an diesem Tag, doch wusste nun, was es heißt, in Stuttgart Rad zu fahren.