„Spiel mit mir!“ Ich war gerade in Begriff gewesen, nach Hause zu laufen, als mich der Riese ansprach. Auch wenn einem Riesen derartiges kaum zuzutrauen ist, behaupte ich, daß er sich angeschlichen hatte. Ja, vermutlich hatte er mich vorher sogar beobachtet und zum neuen Spielgefährten auserkoren.
Plötzlich jedenfalls hatte er vor mir in die Höhe geragt, mit nackten Füßen groß wie Autos. „Nein!“, hatte ich nach oben gerufen, obgleich ich mir denken konnte, was geschah, wenn man einem Riesen die Erfüllung seines Wunsches verweigerte: Bestenfalls steckte man Sekunden später kopfüber in einem Sandkasten und mußte sich beeilen, seine Meinung zu ändern, bevor die Atemluft knapp wurde.
„Spiel mit mir!“, hatte ich den Riesen erneut donnern gehört, während ich versucht hatte, alle Öffnungen meines Körpers zu schließen und vor eindringendem Sand zu schützen. Ich hatte keine Wahl gehabt, als „Mmpff.“ zu brummen, was sowohl „Okay!“ als auch „Nein!“ hätte heißen können.
Doch der Riese war – wenn man von seiner Neigung, andere kopfüber in Sandkästen zu stopfen absah – gutmütiger Natur und hatte meine sandverklebten Töne wohlwohllend interpretiert.
Und nun stand ich hier, an einen Kastanienbaum, gelehnt, hatte die AUgen halb geschlossen und zählte bis fünfzig, während der Boden hinter mir vibrierend bewies, daß der Riese nach einem Versteck suchte. Warum er ausgerechnet „Verstecken“ spielen wollte, war mir ein Rätsel. Zwanzig Meter hohe Wesen sind selbst in baumreichen Parks leicht zu entdecken.
„48 … 49 … 50! Ich komme!“ Ich drehte mich um. Vom Riesen keine Spur „Umso besser.“, dachte ich und beschloß wegzurennen, bevor ich ein zweites Mal Sand atmen mußte.
Ich lief los. Meine Turnschuhe trugen mich butterweich über den Kieselpfad, und bereits nach wenigen Schritten verspürte ich so etwas wie Freiheit. Ich lächelte, bog um eine Kurve – und stand vor dem Riesen. Er hatte sich hinter einer Laterne versteckt, wartete zusammengekauert darauf, daß ich ihn fand oder aufgab. Seine Augen waren geschlossen, als glaubte er, daß er unsichtbar sei, sobald er selbst nichts mehr sehen könne. Die Laterne reichte ihm bis zum Knie und sein Versuch, sich dahinter zu verstecken, wirkte niedlich – falls man so etwas über einen 20-Meter-Kerl sagen darf. Ich schmunzelte.
Doch noch immer hatter ich Sand in den ohren von der praktischen Umsetzung seiner Überredungskunst. Mein Schädel schmnerzte, und ich wollte eigentlich nur nach Hause. Ich mochte Versteckspielen nicht, und noch weniger mochte ich es, dazu gezwungen zu werden. Ich beschloß, mich am Riesen vorbeizuschleichen.
Jeden unnützen Laut vermeidend, auf Äste und lose Steinchen achtgebend, bewegte ich mich vorwärts. ich konnte meinen Atem hören. Er war viel zu laut.
Unter meinen Turnschuhsohlen knirschte leise der Knies. ‚Das kann er nicht hören.‘, beruhigte ich mich. ‚Seine Ohren sind über zwanzig Meter von mir entfernt.‘
Doch der Riese riß die Augen auf und rief fröhlich: „Du hast mich gefunden!“ Ich seufzte. „Jetzt bist du dran!“, donnerte es von oben auf mich herab, und ich wollte schon widersprechen, als ich mich meines letzten Widerspruchs entsann und seufzend zustimmte.
Der Riese lehnte sich an eine alte Eiche und schloß die Augen. „Eins. Zwei. Drei …“, zählte er so laut, daß es kilometerweit zu hören sein mußte.
Ich rannte los. Dies war meine letzte Chance zu entkommen! Ich spurtete über die Wiese. Das Gras dämpfte meine Schritte. Ich holte das Letzte aus mir heraus, steigerte Meter für Meter meine Geschwindigkeit. Nie zuvor in meinem Leben war ich so schnell gelaufen. „Dreiundvierzig. Vierundvierzig.“, dröhnte es hinter mir, und ich rannte weiter, sprang über Steine, wich spielenden Kindern aus, rannte, als hinge mein Leben davon ab. Und vielleicht tat es das.
„Fünfzig.“, höre ich den Riesen in der Ferne brüllen – zumindest kam es mir so vor, als brüllte er. ‚Nicht weit genug!‘, dachte ich, doch hielt inne. Der Riese hatte gute Ohren. Jeder weitere Schritt konnte mich verraten.
Ich brauchte ein Versteck. Zwischen zwei schlanken Bäumen entdeckte ich einen Wacholderbusch, dicht und üppig mit Blättern bestückt. Ich zwängte mich hinein. ‚Perfekt!‘, dachte ich und spürte die Vibrationen der Schritte des Riesens. Die Suche hatte begonnen.
Zunächst lief er in die falsche Richtung. Absichtlich, vermutete ich. Er wollte es sich nicht zu leicht machen. Nach einer Weile kam er näher. Der Boden bebte unter mir. Die Sache fing an, mir Spaß zu machen. Ich war unauffindbar und gluckste vor Vergnügen.
Der Riese blieb stehen. Ich sah ihn nicht, doch der Boden hatte aufgehört zu beben. „Wo bist du?“, donnerte es durch den Park. Ich schwieg. ‚Mucksmäuschenstill.‘, dachte ich und lächelte. Zwei Schritte des Riesens in meine Richtung. Er war noch immer mindestens dreißig Meter von mir entfernt. Doch er kam näher. Jeder Riesenschritt verkürzte die Distanz rapide.
„Wo bist du?“, tönte es erneut. Ich hielt mir die Ohren zu. Noch ein Schritt. Und zwei weitere. Gleich würde er mich finden – oder an mir vorbeilaufen. Ich hielt den Atem an. Kein Laut war zu hören. Stille.
Als es nicht mehr ging, stieß ich vorsichtig die verbrauchte Luft aus und öffnete blinzelnd meine Augen. Der Riese mußte sich unmittelbar neben meinem Versteck befinden. Ich sah mich um, versuchte, durch das dichte Blätterwerk zu lugen, doch konnte ihn nirgends entdecken.
‚Das kann doch nicht sein!‘, dachte ich, ‚Ein Riese ist doch nicht zu übersehen.‘ Doch der Riese war verschwunden.
Mit einem Satz sprang ich aus dem Wacholferbusch heraus, blickte verstört in alle Richtungen – aber fand ihn nicht. Hier gab es keine Verstecke für 20-Meter-Männer. Nur ein paar Büsche und junge Bäume. Wo war er? War das ein Trick?
„Riese! Wo bist du?“, rief ich, doch der Riese antwortete nicht. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Ich entdeckte seine Spuren im weichen Gras. Seine monströsen Fußabdrücke hatten sich tief in den weichen Boden gegraben. Ich folgte ihnen, doch die Spur endete abrupt, unmittelbar neben meinem Versteck.
„Riese! Wo bist du?“, rief ich erneut, doch spürte, daß er verschwunden war.
Ein Mädchen mit Puppenwagen schaue mich verwundert an. „Hast du hier irgendwo einen Riesen gesehen?“, fragte ich. Die Verzweiflung in meiner Simme überraschte mich. Das Mädchen schüttelte den Kopf und ging hastig weiter.
Ich setzte mich ein einen der riesigen Fußabdrücke. Traurig lächelnd fuhr ich mit den Fingern die Kurven seines kleinsten Zehs nach.
„Eigentlich ein netter Kerl, der Riese.“, seufzte ich und kratzte mir ein wenig Sand aus den Ohren.