Zwiebelschalen

Now I Walk alone
Naked to the bone
My heart has fled far from me
Until another day
I find the one
Who looks beyond the eyes in me

My Dying Bride – „The Deepest Of All Hearts“

Früher war ich der Ansicht, Menschen trügen immerfort Masken, hinter denen sie ihr wahres Ich verstecken. Ich glaubte, daß jede Begegnung mit anderen ausreiche, um sich selbst mit einer Maske bedecken zu wollen, sei es aus Anpassungsgründen, um Gefallen erregen, Sympathien gewinnen zu wollen, sei es, um nach außen hin jemanden darzustellen, der imposanter, beeindruckender ist als das wahre Ich oder sei es, um sich selbst zu schützen, abzugrenzen, die Welt außen vor zu halten. Der Mensch trägt Masken, die wie Zwiebelschalen sein wahres Ich verbergen, glaubte ich zu wissen.

Ich selbst neigte eher dazu, mich zu schützen. Schwarz bedeckte meinen Leib, und ich floh zu gerne nach Innen, um inmitten von Menschen das Alleinsein zu suchen. Ich baute Mauern und erwartete den Tag, an dem jemand käme, um sie einzureißen, um die lächerliche Fassade, hinter der ich mich versteckte, zu durchschauen, jemand, den [eigentlich: die] mein Äußeres, meine Maskerade nicht interessierte, die das wahre Ich hinter all den Zwiebelschalen zu suchen bereit war, ein Ich, das vielleicht noch nicht einmal ich selbst wirklich kannte.

Ich glaubte fest daran, daß es Situationen gibt, in denen es keiner Masken bedarf, Menschen, bei denen jeder Schutz, jedes Nicht-Ich, unnötig wäre, hoffte, einen solchen Menschen zu finden, der das wahre Ich schätzen würde, so sehr, daß es mir tatsächlich gelingen könnte, ich selbst zu sein.

Die Theorie der Masken, die sich zwiebelschalengleich um das eigentliche, zu erkennende Ich legen, verwarf ich längst, obgleich ich sie nie für falsch hielt. Nur für unzureichend, ungenau.

Versuche ich heute, ähnlich zu denken, so frage ich mich zunächst, ob die Vorstellung eines „wahren Ich“ nicht albern ist. Doch das ist sie nicht; vermutlich ist dieses Ich inkonstant und schwammig, aber es existiert. Jedoch verbirgt es sich nicht irgendwo in den Tiefen des eigenen Seins, sondern ist stetig vorhanden, pulsiert an der Oberfläche des eigenen Tun und Handelns, des Denkens und Redens, ist stetig präsent – wenn auch nur in Stücken.

Ich gelangte zu Ansicht, daß die Masken existieren, daß man aus diversen Gründen dazu gezwungen ist, Masken zu tragen, sich zu verstellen – oder freiwillig sich selbst entfremdet. Aber all dieses angebliche Nicht-Ich-Sein gehört zum wahren Ich, alle Masken in ihrer Gesamtheit bilden einen Teil des Ich, vielleicht sogar einen großen.

Sich zu verstellen bedeutet also noch immer, Ich zu sein, zeigt man doch durch die Maskerade einen Teil seiner Selbst, und sei es nur den, der sich gern maskiert. Sich zu entfremden ist demnach nicht möglich; man trägt nur Teile des Ichs nach außen, die in ihrer Gesamtheit vielleicht schon erahnen lassen, was sich hinter den Masken, hinter den durchaus existenten Zwiebelschalen verbirgt. Zu versuchen, alle Mauern zu durchbrechen, hinter die Augen zu schauen, ist demnach nicht von oberster Priorität; zuweilen reicht schon das Betrachten der Mauern allein, um einschätzen zu können, wie das dahinter versteckte Gebäude beschaffen ist.

Die Konsequenz aus diesem Denken ist eindeutig: Ich bin Ich, egal, was ich tue.

Mit dem Einverleiben der Masken in das Ich fand ich einen Teil meiner selbst, erkannte das, was ich bin und tat, wie ich mich nach außen hin gab, wie ich redete und dachte, an und begriff auch, welche Wirkung diese Maskerade, hinter der ich auf Entdeckung wartete, entfaltete. Meine Maskerade ist ein Teil von mir, begriff ich, und begann, Mauern abzubauen. Nicht alle, bedarf es noch eines ausreichend großen Abstandes zwischen mir und der Welt, um flüchten zu können, doch genug, um mich selbst zu erleben, wie ich gesehen, akzeptiert, verachtet und betrachtet werde.

Das Spiegelbild meiner Selbst in den Augen anderer hatte mich immer erschreckt, weil sie nur die Masken zu sehen imstande gewesen waren. Es erschreckt mich noch heute, wenn die Blicke abgleiten und nicht sehen wollen, was unter der ersten Zwiebelschicht liegt. Doch mittlerweile bin ich imstande zu begreifen und zu akzeptieren, welches Bild ich in die Welt werfe, bin imstande es zu ändern, zu formen, je nachdem, welchen Eindruck ich zu hinterlassen wünsche, bin imstande, Mauern, meine Mauern, selber einzureißen, mich dem Sein zu öffnen, anstatt auf es irgendwo in meinen Tiefen zu warten.

Sehe ich andere, mich Interessierende, will ich mehr erkennen als nur das Stück Mauer, das vor mir liegt. ich möchte ringsumgehen, betrachten, tiefer blicken. Andere sind auch nur sie selbst, selbst wenn sie sich verleugnen.

Der Blick auf die Mauer reicht niemals, um den Menschen, das wahre Ich, vollständig zu erfassen, doch vielleicht reichen dafür auch nicht Jahre intimster Anteilnahme. Bedenke ich, welche Facetten zu zeigen ich imstande bin, versuche ich zu erfassen, welche Seiten es an mir gibt, die ich mag oder nicht mag, die ich zu wenig oder zu gut kenne, fällt es leicht zu akzeptieren, daß das Außen nur ein Teil des Innen ist, vielleicht nicht der größte, bedeutsamste Teil, doch ein Teil, der Aufschluß zu geben vermag, der bereits zu verraten imstande ist, ob hinter den Mauern ein Ich wartet, das zu entdecken sich lohnt.

[Im Hintergrund: Agalloch – „Ashes Against The Grain“]