In seinen Augenwinkeln bemerkte ich Lachfältchen, ungewohnt ausgeprägt und zahlreich für sein Alter, das ich – in solchen Fragen oftmals unsicher – auf Mitte Zwanzig schätzte. Die Lachfältchen wußten bereits eine Geschichte zu erzählen und stimmten mich fröhlich.
Sein Gesicht war gepflegt, dessen Behaarung ebenso. Sein Lachen war echt und ansteckend, offenbarte weiße, mustergültige Zahnreihen. Ein modischer Kurzhaarschnitt und unaufdringliche, jedoch zeitgerechte, stilbewußte Kleidung komplettierten das Bild.
Es gab keinen Grund, ihn unsympathisch zu finden – sah man von seiner Freundlichkeit ab.
Jeden neu eintreten Straßenbahnbahnnutzer strahlte er vergnügt, mit funkelnden Augen an, grinste fröhlich und grüßte. Seine hohe, mit Speichel getränkte Stimme verriet ihn, die übertriebene Hektik seiner Gesten vernichteten den gewonnenen Positiv-Eindruck:
Der Verstand des jungen Mannes weilte abseits normalen Denkens.
Doch er lächelte, lächelte und grüßte und fand Gefallen dran, sich umzudrehen und seinen Hintermann zu fragen, wohin er unterwegs sei. „Nach Hause?“ Der Hintermann nickte, wollte sich nicht auf das Spiel [denn mehr schien es nicht zu sein] einlassen. Zufrieden mit der knappen Antwort drehte sich der junge Mann um und versuchte die Aufmerksamkeit des an der Tür stehenden Kindes erwecken: „Hallo!“ rief er durch die Straßenbahn, steht kurz auf, um dessen Pullover zu berühren und sich – nach beharrlicher Ignoranz seitens des Kindes – wieder zu setzen – jedoch ohne jede Spur von Enttäuschung.
Als ich die Straßenbahn betrat, begrüßte er auch mich, verriet den Eindruck, den sein normales Äußere erweckte, schnell durch unnormales Verhalten. „Hi!“, grüßte ich zurück und lächelte ihm zu. Er griff meinen Arm, ohne mich meiner Bewegung zu entreißen. Und noch bevor ich Überraschung zeigen konnte aufgrund der fast aufdringlichen Annäherung, war ich bereits vorbei, hatte mich schräg hinter ihm plaziert.
Ich sah ihm zu, wie sein Frohsinn, seine Offenheit, von den verwirrten Gesichtern der Fahrgäste abprallte, wie er sich nicht entmutigen ließ, auch noch den nächsten Einsteigenden zu begrüßen, den nächsten Aussteigenden zu verabschieden.
‚Warum nicht?‘, dachte ich und überlegte, ob nicht wir Normalen es waren, die sich unnormal verhielten. Warum grüßten wir einander nicht, lächelten einander nicht zu, auch ohne uns zu kennen? Warum setzten wir und auf engsten Raum nebeneinander, ohne uns füreinander zu interessieren, versteckten uns hinter Kopfhörern und Büchern, hinter Schweigen und Blicken aus dem Fenster und versuchte, möglichst nicht da, nicht in dieser Straßenbahn zu sein, durch die anderen Mitfahrenden hindurchzusehen, als wäre niemand von uns wirklich existent?
Mir fiel es schwer, den Zeilen des Buches auf meinem Schoß zu folgen; immer wieder lugte ich zu diesem jungen Mann, den als „zurückgeblieben“ zu bezeichnen ich nicht wagen würde, erfreute mich seiner nie endenen Fröhlichkeit, als könnte sie sich auf mich übertragen.
‚Gern würde ich die Welt einmal durch seine Augen betrachten.‘, dachte ich, einen Gedanken aufgreifend, den ich schon früher in meinem Schädel gefunden hatte:
Vielleicht ist zuweilen besser, dumm zu sein und davon nichts zu wissen.
Meine Ausstiegshaltestelle näherte sich. Ich klappte ich mein Buch zusammen und stand auf. Bewußt wählte ich den Weg zur Tür an ihm vorbei, wollte keiner Feigheit, keiner Ignoranz frönen. Als er, um mich zu verabschieden, seine Hand ausstreckte, ergriff ich sie.
„Mach’s gut.“, sagte ich lächelnd und stieg aus.
Durch die sich schließenden Türen vernahm ich noch seine Worte, an den Hintermann gerichtet:
„Das war aber ein netter Mann.“
[Im Hintergrund: Die Apokalyptischen Reiter – „All You Need Is Love“]
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kenne ich, kenne ich…
Ja, vielleicht wäre die Welt ein gutes Stück schöner wenn wir manchmal die Welt durch die Augen eines anderen sehen könnten…
und wenn wir manchmal Dinge tun, auch wenn sie nicht ’normal‘ sind, um anderen eine Freude zu machen…
Ein schöner Text… und eine schöne Geste 🙂
es ist nur schlimm, dass einem die meisten mit Mißtrauen oder gar Ablehnung begegnen, wenn man freundlich zu jemanden ist. Sie rechnen gar nicht mehr mit echter Freundlichkeit, sondern vermuten nur hintergangen oder betrogen zu werden
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Ich denke, man macht sich auch damit selbst eine Freude…
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Stimmt. Die in der Straßenbahn Sitzenden empfanden die zugegebenermaßen etwas aufdringliche Freundlichkeit eher als Belästigung.
Und wenn ich lächelnd durch die Gegend laufe, sehen mich die Leute sowieso an, als wäre ich verrückt…
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Da fällt mir wieder mal Marcel Proust ein:
„Die einzig wahre Reise, der einzige Jungbrunnen wäre für uns, wenn wir nicht neue Landschaften aufsuchten, sondern andere Augen hätten, die Welt mit den Augen eines anderen, von hundert anderen betrachten, die hundert verschiedene Welten sehen könnten, die jeder einzelne sieht.“
Übrigens habe ich solche Gedanken auch jedes mal, wenn ich einem solchen Menschen begegne. Ich hab mich oft gefragt, wer „normaler“ sei, diese überaus Kontaktfreudigen, oder die, die auf Distanz gehen. Ich muss aber zugeben, dass ich mich oft hinter Büchern und Kopfhöreren verstecke, weil ich einen gewissen Abstand zu den Menschen benötige.