Alltagsweisheiten bezweifelnd

Der ewige Zweifler in mir meldet sich zu Wort, bekommt Stimme und Klang, als könnte er Neues berichten, Altes hinterfragend.

„Alles, was schiefgehen kann, geht schief.“
In dieser Weise wird Murphys Gesetz genannt und interpretiert, ja hingenommen, als gäbe es keine treffendere Alltagswahrheit. Und doch findet der Zweifler in den wenigen Worten genug Grund zur Skepsis, um dieser Ausdruck verleihen zu wollen.

Meine Fantasiepotential ist begrenzt, kann sich sicherlich nicht mit den kreativen Hochgeistern unserer Zeit [oder vergangener Zeiten] messen, und doch fällt es mir leicht, jeder einzelnen Situation meines Daseins unzählige Möglichkeiten zuzuordnen, unzählige Dinge, die mißglücken, schiefgehen können. In jeder Sekunde stürmt eine Flut von Entscheidungen, von Alternativen, von Wegeskreuzungen auf uns ein, nur selten überhaupt wahrgenommen, doch voller falscher Richtungen, angefüllt mit potentiellen Katastrophen.

Mensch wäre erstaunt, was tatsächlich alles „schiefgehen“ kann, beginnt er erst einmal darüber nachzudenken. Vorzugsweise jedoch stellt man nach einer Ansammlung unglücklicher Umstände fälschlicherweise fest, daß tatsächlich alles mißlang, was mißlingen konnte.

Allein die Tatsache, daß man zu einer solchen Feststellung fähig ist, daß also weder Gehirn noch Herz den Dienst verweigerten [von dem Rest des ganzen organischen und anorganischen Körperinhaltes ganz abgesehen], beweist, daß die goldene Regel keine solche sein kann.

Ein Satz ist mir im Gedächtnis, der mit Murphy oft in gleichem Atemzug genannt wird:
„Der Schlüssel ist stets dort, wo du zuletzt suchst.“ – Der Schlüssel dient nur als Beispiel für Allgemeineres, und doch neige ich dazu, ihn aufgreifen zu wollen.

Wenn man Minuten, Stunden, Tage mit verzweifelter Schlüsselsuche verbracht hat, wird man nicht mit seiner Suche fortfahren, sondern diese – erleichtert über den geglückten Fund – abbrechen.
Die letzte, zur Suche gehörige Tätigkeit war demnach das Auffinden. Der Schlüssel lag in der Schublade, in der Nische, in welcher man ihn am Ende seiner Suche entdeckte, befand sich demnach dort, wo zuletzt gesucht wurde.
Der obige Satz ist wahr, doch keinesfalls ein Murphy-Mysterium oder ähnliches, nur eine Folge des natürlichen Prozesses vom Suchen und Finden.

Ein letztes Beispiel, das ich schon zu oft beobachtete, um es nicht erwähnt haben zu wollen.
Der böse Lehrer droht damit, einen mündlichen Test an der Tafel zu vollziehen, aus der vielköpfigen Schülermasse ein Individuum herauszuzerren und vor den Augen aller nach Wissen und Nichtwissen zu beurteilen. Die Thematik ist eine komplizierte, niemand bereite sich vor. Dementsprechend unwillig ist die zitternde Schülerschar, von der jeder einzelne verzweifelt darauf hofft, daß er nicht der Auserwählte sein muß.

‚Ich will nicht.‘, pulsiert es panisch in den wissensfernen Köpfen der Lernenden.
‚Ich will nicht. Aber der nimmt bestimmt mich.‘
Und dann erfindet die Schülerfantasie noch einen halbwegs plausiblen Grund, warum der böse, böse Lehrer ausgerechnet ihn bloßstellen wird, bekräftigt also sich selbst gegenüber, daß das bitter Los auf einen selbst fallen wird – und hofft gleichzeitig das Gegenteil.

Und dann ist es soweit. Der Lehrer ruft einen Namen auf. Erleichterung durchströmt alle, denen der Name nicht eigen ist. Jeder vergißt glücklich, daß er bis vor wenigen Augenblicken festen Glaubens war, selber an die Tafel zu müssen.

Nur der eine, der Auserwählte, vermag sich nicht zu freuen, schlurft vor zur Tafel und sagt sich immer wieder verbittert: „Ich hab’s doch gewußt, daß er mich dran nimmt.“
Und er hat es wirklich gewußt – genau wie seine nun wieder ausgelassen grinsenden Mitschüler.

[Im Hintergrund: Arch Enemy – „Doomsday Machine“]