Ich habe mich noch nicht entschieden, inwieweit es als Produkt meiner Spontaneität erachtet werden kann, daß ich mich gegen 0.15 Uhr doch noch einmal außer Haus begab, um in Richtung der bereits erwähnten Bar zu radeln und dem dortigen Amüsement zu frönen. Doch begreift man in meinem Fall Spontaneität als das Ergebnis schier endlosen Herauszögerns einer eindeutigen Entscheidung in Kombination mit der Bekanntgabe und dem Ausführen des Entscheids im letztmöglichen Augenblick, so dürfte man nicht falsch liegen, auch meine kurze Reise durch einen erstaunlich dunklen Park als spontan zu bezeichnen.
Ich traf ein und fand – wie erwartet – unzählige Menschen vor, die sich die letzten Stunden der Existenz einer Magdeburger Pingpong-Bar nicht entgehen lassen wollten.
„Du hast die Versteigerung verpaßt.“, begrüßte mich meine Mitbewohnerin ein wenig vorwurfsvoll, nicht im Geringsten von meiner Anwesenheit überrascht. Das wiederum überraschte mich, war ich doch selbst, als ich mit beiden Füßen innerhalb der Bar stand, nicht wirklich davon überzeugt, mich auf den Weg gemacht zu haben.
Der Vorwurf war zum Teil berechtigt: Die Versteigerung schien der Höhepunkt des Abends gewesen sein, und wenn man bedenkt, womit ich in den Augenblicken beschäftigt war, als sie vonstatten ging, kann man nur vorwurfsvoll-enttäuscht mit dem Kopf schütteln.
‚Immerhin habe ich endlich die Slowakei-Fotos auf eine CD gebrannt.‘, versuche ich mich mir selbst gegenüber zu rechtfertigen – doch ich glaube mir nicht.
Aber die Bar war voll, die Tischtennisplatte zum Bersten von Spielwütigen umstellt. Ich besorgte mir Premium Cola und Kelle und reihte mich ein. Das Spiel war träge, doch amüsant. Ich erkannte Gesichter, wechselte wenige Worte mit denen, die sie hören wollten. Trotz Massenandrangs kam ich schnell bis kurz vor das Finale, erwarb zwei Runden später sogar einen Siegpunkt.
Ich war stolz auf mich, ein wenig, hatte ich mir – und den interessierten [und daher inexistenten] anderen – doch gezeigt, daß ich in der Lage war, mich bis zum siegreichen Finale durchzusetzen. Und zugleich war ich enttäuscht, hieß doch dieser Gewinn, daß es hier nichts mehr zu holen gab, daß mein Ehrgeiz gar nicht mehr angestachelt werden brauchte.
Einmal ertappte ich mich lächelnd, lächelte weiter, erfreut. Ich pausierte, beschaute die Spielenden, redete mit meiner Mitbewohnerin, mit anderen. Nichts Bedeutsames, nur Smalltalk, Worte, wie sie ein jeder wechseln würde, der in nüchternem Zustand gezwungen ist, Kommunikation zu betreiben.
Ich leerte meine Cola und wagte eine weitere Runde, gelangte ins Finale, erwarb einen weiteren Punkt. Meine Freude hielt sich in Grenzen.
‚Es wird Zeit zu gehen.‘, sagte ich mir, erlebte nur wenige Sekunden der folgenden Runde, flog raus und gab meine Kelle ab.
Der Heimweg durch die Dunkelheit schaffte Klarheit:
Ich hatte inmitten von Punktwütigen problemlos zwei Punkte geholt – ein Beweis meiner noch immer schlummernden Tischtennisfähigkeiten. Doch die Anzahl der Worte, die meinen Mund verlassen hatten, war minimal. Und keines davon ging in Richtung der Wesen, die anzusprechen sinnvoll gewesen wäre.
Wie alt war ich eigentlich, daß ich mir noch immer über derlei Teenagerkaspereien Gedanken machen mußte?
Es ging mir nicht um Geltungsbedürfnis, nicht darum, der Masse zu gefallen, nicht darum aufzufallen [Und es waren genug Barbesucher dabei, denen das Auffallen durchaus vorrangig am Herzen lag.]. Es ging einzig und allein um den Wunsch nach Gesellschaft, nach dem Lächeln fremder Lippen, nach Worten, die mehr als die Oberfläche berührten.
Vielleicht war es albern, in einer Bar danach zu suchen, mit scheuen Blicken in Frage kommende Wesen zu taxieren und jedes mögliche Wort unter der eigenen Zunge versteckt zu halten. Doch wo, wenn nicht hier?
Der Heimweg war zu kurz.
Für einen Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, daß ich keinen Schlaf wünschte, ihn für überflüssig hielt, unnütz [wenn man von den Körperregnerationprozessen absah], zeitverschwendend. Ich wollte die Nacht nutzen, fühlte mich frei in der Kühle, die meine nackten Arme berührte, in den Gedanken, die durch meinen Kopf sprudelten, aufgelöst im Moment.
‚Albern.‘, verlachte ich mich und meinte den Wunsch, durch Schlafinexistenz nutzvolle Zeit zu gewinnen. Schließlich hatte ich die letzten Tage nahezu tätigkeitsbefreit vertrödelt, ohne auch nur einen Schimmer von Interesse für die verstreichende Zeit zu haben.
Doch ich wünschte, daß die Nacht noch eine Weile verbliebe, daß ich noch stundenlang durch das Dunkel wandern, mir selbst hinterhersinnen könnte, daß ich mich löste von dem Ich, das träge und antriebslos von Tag zu Tag kroch, ohne Plan und Ziel vor Augen zu haben, ohne sich selbst ändern zu können, ja zu wollen.
Ich wünschte, ich hätte einen Begleiter an meiner Seite, mit dem ich meine Gedanken teilen könnte, jemanden, der mit mir den Duft der Bäume im Park genoß, sich an der Stille auf den Straßen erfreute, die Glitzeraugen streunender Katzen bewunderte.
Ich wünschte mir, nicht allein zu sein, nicht in diesen wunderschönen Momenten.
Und ich wünschte, fliehen, einen Schlußstrich ziehen zu können, wieder einmal einfach alle Sachen zu packen und woandershin zu eilen. Ich wünschte, mein Studium wäre beendet, und ich bekäme Gelegenheit, irgendwo neu zu beginnen.
Dann könnte ich der Einsamkeit einen Namen geben, könnte mir einreden, es läge daran, weil ich noch so neu hier sei, noch niemanden kennen würde, könnte mich belügen und mir verschweigen, daß sich auch hier die gleichen Geschichten wiederholen werden.
Ich belüge mich, rede mir ein, ich hätte dieses und jenes Bedeutsame zu tun und verbringe die Tage damit, darauf zu warten, daß ich endlich beginne, anstatt mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich tun möchte, die ich mir ersehne.
Ich belüge mich und glaube, daß in ein paar Monaten, wenn sich die Situation geändert, wenn in gewissen Umständen Klarheit eingekehrt ist, alles besser, alles verständlicher, vielleicht einfacher sein wird, daß ich mich dann all dem Ersehnten, Versäumten, hingeben kann.
Doch so ist es nicht, und ich weiß es, verharre im Heute, um der Zukunft nicht begegnen zu müssen. Vielleicht habe ich Angst vor ihr, Angst vor neuen Wegen, neuen Entscheidungen, Angst vor Verlusten, vielleicht vor dem Verlust eines Teiles meiner selbst.
Doch vielleicht verlor ich längst, verlor ich mich längst in meiner eigenen Trägheit.
‚Sprich sie an.‘, flüsterte ich mir zu, als ein sympathisches Mädchen [Gibt es eigentlich einen erwachseneren Ausdruck als „Mädchen“, der nicht „Frau“ lautet?] sich hinter mich in die Tischtennisschlange einreihte.
‚Sprich sie an.‘, doch ich schwieg, bewunderte sie heimlich, genieße ihre Nähe.
Später bemerkte ich, daß ich noch nicht einmal so weit gekommen war, mich zu fragen, welche Worte wohl die geeignetsten wären.
Daß die Trägheit mich festhält, gefangenhält, begriff ich längst. Doch ich selbst bin es, bin die Trägheit, bin der einzige, der mich befreien, der sich entfesseln kann.
‚Ein Neuanfang.‘, denke ich und lächle, ‚Ein Neuanfang. Irgendwo.‘
Flucht als Perspektive – auch kein neuer Gedanke.
‚Wer bin ich, daß ich alles Alte aufwärme und noch immer keinen Antwort fand?‘, wundere ich mich und schüttle mit dem Kopf.
Der Wind spielt in meinem Haar, und ich genieße den Rausch der Geschwindigkeit.
‚Wie war doch gleich die Frage, die es zu beantworten gilt?‘, überlege ich. Ich weiß es nicht, glaube aber, nicht keine, sondern unzählige Antworten gefunden zu haben. Sie alle zeigen, deuten auf mich, behaupten, daß ich es wäre, mein Wille, der mich aus dem Dreck zu zerren, mir eine Richtung zu weisen habe.
Träge gebe ich mir recht und nicke wortlos in die Dunkelheit.