Cola und zwei Brötchen

In den Jahren meiner Grundschule gehörte ich zu den sogenannten Hortkindern, blieb also, nachdem Schulstunden und Mittagessen vorbei waren unter Aufsicht irgendwelcher Erzieher auf dem Schulgelände, um dort herumzutoben und mit meinen Freunden allerhand Unsinn anzustellen.
Ich erinnere mich an eine Begebenheit aus der zweiten Klasse, die mich noch heute angenehm berührt:

Es begann im Sandkasten, dort, wo die beiden Klettergerüste standen, auf denen wir herumzutollen pflegten.
„Wer traut sich, von ganz oben herunterzuspringen?“
„Ich!“, rief ich, kletterte hinauf und sprang ohne Zögern von der höchsten Stelle des Klettergerüsts in den weichen Sand.

Eines Tages spielte ich in selbigem Sand, wühlte, grub, baggerte, schaufelte, baute Burgen, formte Straßen, war in meine kleine Sandwelt vertieft. Doch dann sah ich das Glitzern. Sekundebruchteile später hatte ich es vom Sand befreit, ausgegraben, hielt stolz eine silbern glänzende Münze in der Hand: Eine Mark!
So viel Geld! Was man damit alles machen konnte. Beglückt schloß ich die Augen und träumte vor mich hin.

16 Uhr durfte ich vom Hort nach Hause gehen; schließlich war ich ein Schlüsselkind und durfte schon – trotz Abwesenheit meiner Eltern – die heimische Wohnung mit eigenem Schlüssel aufschließen und betreten.
„Verlier deinen Schlüssel nicht!“, hatte mein Vati mich oft ermahnt – doch es hatte nichts genützt, war ich doch ein geborener Schlüsselverlierer.

Diesmal jedoch hatte ich keinen Schlüssel verloren, nein, ich hatte sogar etwas gefunden. Stolz und voller Vorfreude eilte ich nach Hause, warf meinen Schulranzen in die Ecke, kramte die Mark aus der Hosentasche hervor und flitzte die Treppen hinunter in die Kaufhalle, die sich direkt vor unserem Eingang befand.

Mit großen Augen sah ich mich um. Die Auswahl war enorm, riesig. Es würde schwer werden, mich zu entscheiden. Minutenlang stöberte ich durch die Regale, hielt ständig inne, weil ich neue Produkte entdeckte, die mich faszinierten. Beim Gebäck blieb ich stehen. Ein Brötchen vielleicht? Oder Süßigkeiten? Schokolade wäre eine gute Idee.
Doch das war nicht, was ich wollte. Der Sinn stand mir nach anderem.

Mittlerweile war ich zu den Getränken gelangt. Begeistert musterte ich die verschiedenen Sorten Brause. Und dann entdeckte ich die Cola. Das war es! Die sollte es sein!

Ich kann mich heute nicht mehr an die Sorte erinnern, ob es tatsächlich eine Flasche Vita Cola war, die ich ergriff und zur Kasse beförderte. Doch ich weiß, daß Cola für mich etwas Besonderes darstellte, etwas Ungewöhnliches, das ich normalerweise nicht zu trinken pflegte, das meine Eltern nicht kauften. Gut, ich vermißte es nicht, Cola zu trinken, gab es doch genügend schmackhafte Alternativen.

Doch heute war ein besonderer Tag. Heute würde ich Cola trinken. Eine ganze Flasche. Allein.

95 Pfennige sollte das Wundergetränk kosten, verschlang also einen Großteil meiner Finanzen. Das konnte ich akzeptieren.
Mit strahlendem Gesicht und 0,7 Litern Cola im Arm stolzierte ich aus der Kaufhalle hinaus, plazierte mich auf den Stufen meines Hauseingangs. Behutsam öffnete ich den Schraubverschluß. Wie wundervoll es zischte.

Das schwarze Getränk im Inneren des Glasgefäßes schäumte kurz auf. Dann setzte ich die Flasche an die Lippen. Ich hatte Durst; die ersten Schlucke waren wunderbar, köstlich, erfrischend.
„Ahhhh…“, gab ich von mir und spürte die Kohlensäure in meiner Kehle prickeln.

Ich setzte ab, schaute mich um.
„Seht mich an.“, wollte ich rufen, „Ich trinke aus meiner eigenen Cola-Flasche.“
Die Leute gingen uninteressiert vorbei, während ich Schluck für Schluck des süßen Sprudelwassers in mich hineinschüttete.

Allmählich verlor ich den Geschmack. Das Getränk war warm, und siebenhundert Milliliter waren eindeutig zuviel für mich.
Doch ich blieb tapfer, gab nicht auf, bis ich die Flasche vollständig geleert, mir jeden einzelnen Tropfen Cola einverleibt hatte.
Zufrieden stand ich auf, die leere Colaflasche in der leeren Hand haltend. Fünf Pfennig hatte ich noch. Und in meiner Hand befand ich Pfand im Wert von dreißig Pfennigen.

Ein zweites Mal lief ich in die Kaufhalle, brachte die Flasche zurück. ‚Was kann man mit 35 Pfennigen kaufen?‘, fragte ich mich. Diesmal überlegte ich nicht lang, ging ohne zu Zögern zu den Brötchen.
„35 durch fünf ist sieben.‘, stellte ich fest und nahm die übergroße Brötchenzange in die Hand. Es war schwer, damit zu hantieren, doch nach kurzer Zeit hatte ich sieben Brötchen in eine Tüte verfrachtet. Ich ging zur Kasse, bezahlte, ließ mich wieder auf den Stufen meines Hauseingangs nieder.

Das Geld war alle, doch nun hatte ich sieben Brötchen.
‚Damit läßt sich einiges anfangen.‘, grinste ich in mich hinein, schnappte mir das erste Brötchen und biß beherzt hinein. Nach der Cola war das Brötchen eine willkommene Abwechslung.

Doch die Begeisterung hielt nicht lange. Beim zweiten Brötchen merkte ich schon, daß ich keinen Appetit mehr verspürte. Schließlich waren die Gebäckstückchen ohne Belag viel zu trocken. Und der letzte Schluck Cola verweilte längst in meinem Bauch.
Ich zuckte mit den Schultern und quälte mir tapfer die letzten Reste des zweiten Brötchens hinein. Fünf waren noch übrig. Fünf Brötchen, die mir nicht mehr nützten.

Was sollte ich tun? Sollte ich sie wegwerfen? Dagegen verwehrte ich mich, hatte man mir doch längst von hungernden Kindern in anderen Teilen der Welt berichtet.
Sollte ich sie verschenken? An wen? An Vorbeigehende? Würden diese mich nicht mit fragenden Blicken bedecken und abwehrend davoneilen?
Sollte ich die Brötchen einfach nach Hause mitnehmen, sie meiner Mami übereignen? Doch dann müßte ich erklären, woher ich das Geld hatte, müßte gestehen, heimlich eine ganze Flasche Cola getrunken zu haben.
Das wollte ich nicht, wußte ich doch nicht, ob dieses Geständnis nicht womöglich einigen Ärger in sich barg. Noch immer auf den Stufen sitzend grübelte ich vor mich hin.

Ein Nachbarsjunge kam vorbei, sprach mich an. Ohne Zögern schenkte ich ihm ein Brötchen. Er freute sich – und auch ich freute mich, hatte ich doch eine Lösung für mein Problem gefunden.

Ich ging hinauf und deponierte die restlichen vier Brötchen auf dem Küchentisch. Als meine Mami heimkehrte, wunderte sie sich, kam in mein Zimmer und fragte mich:
„Woher sind denn die Brötchen in der Küche?“

Sogleich begann ich, meine Geschichte zu erzählen: Ich hatte Sandkasten ein Geldstück gefunden und war mit diesem einkaufen gegangen. Da ich nicht wußte, was ich kaufen sollte, hatte ich kurzerhand vier Brötchen gekauft.
Meine Mami lächelte und war zufrieden. Auch ich lächelte, hatte ich doch nahezu die Wahrheit erzählt.

Daß ich kein 20-Pfennig-Stück, sondern eine Mark gefunden und mir den Bauch mit Cola und zwei Brötchen vollgestopft hatte, brauchte ja nicht unbedingt erwähnt zu werden.