Der fremden Schönheit

Was sagt man, wenn die Schönheit jeden Atem raubt, Momente der Zeit entreißt, Augenblicke nur dir, nur deinem Anmut gelten läßt?

Warum sollte ich nicht verstummen im Angesicht deiner Schönheit? Wie sollte ich nicht das Schweigen suchen, um deine erhabene Stille nicht zu verletzen? Wie sollte ich nicht mich lächelnd laben an dem, was mein Auge, was deine Gestalt mir schenkt?

Vielleicht bist du alles, mein Leben, mein Dasein, meine Zukunft, mein Weg. Vielleicht bist du meine Zärtlichkeit, Quell meiner Liebe, Ziel meiner Küsse. Vielleicht bist du alles.

Mein Schweigen erglimmt zum Lächeln. Kein Wort könnte dich halten. Ich wage es nicht, berühre nicht die gläserne Zerbrechlichkeit deiner zarten Schönheit mit meinen rauhen Stimme, beschmutze nicht deinen Zauber mit meiner Wörter Klang. verletze nicht deine Nähe durch die meine, verletze dich nicht, verletze mich nicht…

… bis du fortgehst und ich dich nicht zu halten vermag …

Menschen 14

Ich erkannte ihn schon von weitem. Er stand an der selben Ecke wie damals, schaute mich mit dem selben flehentlichen Blick an.

Sein Mund formte Worte. Er war unrasiert; sein Haar trotz Pomade würst. In der Hand hielt er einen Zettel, ein karierter Fetzen, auf dem in großer Handschrift Zahlen geschrieben standen. ‚Zwei Telefonnummern.‘, vermutete ich.

Ich hörte ihn nicht, als er mich ansprach. Die Musik aus meinen Kopfhörern übertönte seine Worte. Ich hielt inne, und er wartete stumm, bis ich die Kopfhörer aus den Ohren gezogen hatte.
Dann fragte er nochmal:
„Do you speak English?“

Ich seufzte innerlich, verdrehte insgeheim die Augen. Er erkannte mich nicht.
„Yes.“, antwortete ich kurz und knapp und wußte, was kommen würde.

„You have a telephone?“
„No. Sorry.“, log ich.
Ich fragte mich, wie oft der Mann an dieser Straßenecke stand und Menschen um die Möglichkeit zu telefonieren anbettelte. Ich fragte mich, ob das seine Masche war, um an Geld zu kommen, ob er absichtlich falsche Nummern wählte, um dann etwas Telefonierkleingeld zu erbetteln. Ich fragte mich, ob der Zettel in seiner Hand nicht nur Alibi war, nur ein Teil seiner Lüge.

Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er nicht aufgeben würde.
„You have … ?“
Ihm fehlten die Worte, doch seine Geste war eindeutig. Er wünschte Kleingeld. Für das nächste Münztelefon oder so. Ich seufzte ein zweites Mal innerlich.
Natürlich hatte ich Kleingeld. Zu einer weiteren Lüge war ich nicht imstande.

Es war heiß. Mein Rucksack war schwer, und ich hatte den gesamten Weg vom Bahnhof laufen müssen. Der Henkel des Beutels in meiner rechten Hand war unter seiner Last gerissen, das Tragen eine Qual. Auch das Einrad in meiner linken Hand wurde allmählich schwer; und ich sehnte mich einzig und allein danach, nach Hause zu kommen, alle Lasten abzuwerfen und etwas Kühles zu trinken.

Trotzdem gab ich nach, legte meine Sachen auf die Straße, kramte in meinem Rucksack nach dem Portemonaie.
„How much do you want?“, fragte ich, „50 Cent?“
„One.“, war die Antwort. Ein Euro.

Ein mögliches „Nein.“ war längts in der Hitze der Nachmittagssonne geschmolzen. Matt überreichte ich ihm den Euro.
‚Ein Telefonat wäre billiger gewesen.‘, dachte ich, doch glaubte mir nicht. Er hätte sowieso wieder niemanden erreicht, mich danach um Kleingeld gebeten.

Der Mann bedankte sich, freundlich, lächelnd, und ging, winkte, als er noch einmal zurücksah. Vielleicht suchte er nun tatsächlich ein Münztelefon, wählte die Numemrn auf seinem Zettel. Ich beschloß, das zu glauben, beschloß zu glauben, daß er die Wahrheit gesagt hatte, setzte meinen Rucksack wieder auf, ergriff den kaputten Beutel, das Einrad und schleppte mich mühsam nach Hause.

‚Warum nur‘, fragte ich mich, ‚bin ich immer wieder das Ziel Freundlichkeit und Kleingeld erflehender Menschen? Wirke ich wohlhabend? Oder gar vertrauenswürdig?“
Innerlich lächelnd schüttelte ich mit dem Kopf.
‚Nein. Bestimmt nicht.‘

Das Perfekte System

Wäre eine Regierung, eine staatliche Oberheit, perfekt, makellos, bräuchte man keine Regierenden.

Der Gedanke, der hinter diesem Satz steckt, ist folgender: Politiker haben es sich vorwiegend zur Aufgabe gemacht, das Leben der Bürger zu verbessern, dabei aber auch die Belange des Staates zu vertreten. Dazu werden täglich Vorschläge erbracht, Ideen durchdacht, Entscheidungen gefällt.

Doch sind die Regierenden letztendlich nicht diejenigen, die die gefällte Entscheidung in die Tat umsetzen. Dafür sorgen Verwaltungsapparate. Was macht also die Obrigkeit? Entscheiden. Gegenwarts- und Zukunftssituationen durchdenken und versuchen, mit Regeln und Beschlüssen in die richtige Richtung zu lenken.

Dagegen ist nichts auszusetzen.

Aber es werden ständig neue Regeln aufgestellt, alte Gesetze abgeändert, verbessert, Ideen verworfen oder optimiert usw. Die Regeln, nach denen zu leben, zu handeln, ist, stellen nur eine Art schwammige Masse dar, deren Formen sich stetig ändern.

Im allgemeinen ist Veränderung gut. In diesem Fall jedoch nur bedingt. Denn Veränderung, der stete Drang, die stete Notwendigkeit zu verändern bedeutet hier vor allem eins: Die Gesetzgebung, die Regeln, die unser Dasein bestimmen, sind äußerst unzureichend. Sie sind bei weitem nicht perfekt, bei weitem nicht optimal, vielleicht noch nicht einmal gut.

Ständig muß korrigiert, Altes ausgemerzt, Neues beachtet werden. Ständig zeigt die Entwicklung des Staates, daß Gedanken in der Vergangenheit falsch waren oder in falsche Richtungen führten. Dieser Umstand bewirkt Diskussionen, Streit, zwischen Betroffenen und Verantwortlichen, zwischen Beharrern und Verbesserern.

Wäre das System perfekt, bedürfte es keiner Veränderung. Ein festes Regelwerk, das unabänderlich über der Bevölkerung schwebte und jede Eventualität berücksichtigte.

Wäre das System perfekt, bedürfte es nur einer einzigen Variablen, einer einzigen veränderlichen Größe: die menschliche Entwicklung.
Mit der Entwicklung des Menschen verändern sich dessen Denken, dessen Handlungsweise, dessen Bedürfnisse. Dieser Umstand muß natürlich berücksichtigt werden, muß Einfluß auf die Gesetze und Regeln haben.

Doch ansonsten wäre für die Regierenden nichts zu tun, nichts. Das Regelwerk in seiner Perfektion bräuchte keine steten Diskussionen und Verbesserungen, keine Korrekturen und Ausmerzungen. Nur dem Fortschritt müßte es angepaßt werden, nur der menschlichen Entwicklung.

Das zeigt also deutlich, wie weit das derzeitige System von der Perfektion entfernt ist, wie sehr es nötig ist, Fehler zu beseitigen und zu korrigieren, Löcher zu stopfen, die ihrerseits Löcher schaffen, die gestopft werden müssen.

Eine Regierung wäre im Perfekten System wohl nahezu überflüssig. Doch dieses ist selbstverständlich unerreichbar. Aber allein der Gedanke an ein solches zeigt, wie unvollkommen unsere Staatsform, unsere Gesetzgebung, unsere Regierung in Wirklichkeit ist, die wir zuweilen für vollkommen zu halten wünschen. Es zeigt auf, daß wir tagtäglich in einem System leben, daß aus einem Stückwerk von Fehlern besteht, die fortwährend korrigiert werden müssen.

Der wohl deutlichste Gegensatz zu diesem unförmigen Flickenteppich ist die Bibel – ein Buch, das über Jahrtausende Bestand hatte, das ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verändert, verbessert wurde, ein Buch, das angeblich die Regeln des Lebens enthält, das nicht dem Fortschritt angepaßt wird, nicht mit der menschlichen Entwicklung Schritt zu halten versucht, nicht fortwährend in sich selbst Fehler aufdeckt, die korrigiert werden müssen.

Die Bibel könnte ein Beispiel für das Perfekte System sein – wäre sie perfekt. Doch das ist sie nicht, allein schon, weil sie von Menschen geschrieben wurden, denen man die Perfektion ohnehin absprechen kann. Die Bibel enthält mehr Fragen als Antworten.

Und doch wird sie von der christlichen Kirche als unfehlbares Werk Gottes, als Richtungsweiser, als Ratgeber benutzt, empfohlen. Alle Antworten seien darin verborgen.

Und so finden sich Theologen und Bibelforscher, die Fragen auf den Grund zu gehen versuchen, die Antworten „zwsichen den Zeilen“ suchen, als gäbe es sie, als könnte das Jahrtausende alte Werk auch über alle Fragen der Moderne Auskunft geben.

Das kann es nicht.

Und doch steht dieses feste, starre Regelwerk im Gegensatz zu jeder Regierungsform, die sich immer neuen Formen fügt.

Beide sind unzureichend, ohne Perfektion. Wir leben irgendwo dazwischen und versuchen, mit dem klarzukommen, was gerade ist, suchen Halt an Werten und Glauben, an der vermeintlichen Sicherheit in der Starre, in der Formlosigkeit, vergessen, daß nicht jede Antwort bereits gegeben ist, daß nicht jede Antwort vom „System“ erfolgen kann…

Waschlappen

Einst nannte ich mich eifrig trainierendes Mitglied eines Leichathletikvereins. Ich, schon immer von schlanker, vielleicht sogar dürrer Statur, brachte keine Höchstleistungen hervor, doch begriff ich mich als guten Langstrecken- und Ausdauerläufer.
Ein- bis zweimal jährlich bot unser Verein ein Trainingslager an, das selbstverständlich einem intensivierten Leistungsaufbau, aber auch einem angenehmen Zusammenfindungseffekt dienen und vor allem Freude bringen sollte. Und das tat es durchaus, wurden doch neben der täglichen Traininsgeinheiten Wanderungen unternommen, Städte besucht und anderen amüsanten Tätigkeiten gehuldigt.

Etwas, das wohl als Bindeglied zwischen „Spaß“ und „Training“ dienen sollte, war die Sauna. Ich war noch nie ein eifriger Repräsentant meines eigenen Leibes gewesen und vor allem mit beginnender Pubertät wenig begeistert von dergleichen Aktivitäten. Doch mir blieb keine Wahl – mein Selbstbewußtsein und mein Verweigerungssinn waren noch nicht sonderlich ausgeprägt -, mich in die Massen einzureihen, die scheinbar tatsächlich Freude zu emfpinden vermochten, anstatt ihrer – meiner Ansicht nach natürlichen – Scham irgendwie Ausdruck zu verleihen.

Das Schönste an der Sauna war für mich das anschließende Abduschen inklusive des dazugehörigen Pulszählens in der Ruhephase. Ich mochte es, meinen Puls zu spüren, mochte es, meinem Herzschlag zu lauschen, zu fühlen, wie lebendig ich war. Ich liebte es zu zählen, wie sehr die Hitze mir zugesetzt hatte, wie eifrig mein Körper bemüht war, Sauerstoff durch meine Adern zu pumpen. Ich genoß es, wenn die erstaunlich hohen Pulszahlen rasch geringer wurden, wenn ich in wenigen Minuten wieder meinem Ruhepuls näherte, wenn ich mir gewiß wurde, daß es mit meiner Kondition doch gar nicht so weit her war.

Der Rest der Sauna mißfiel mir. Dabei war die Hitze noch das geringste Problem. Kinder auf dem Weg in ihr Dasein als Jugendliche, neigen zu Übertreibungen, zu sinnlosen Kraftakten, vor allem, wenn feminine Altersgenossen den eigenen Posen beiwohnen. Also war es nicht nur Pflicht, sich in der Sauna möglichst weit oben zu positionieren, sondern auch noch so lange wie möglich – also, bis der Trainer die Selbstkasteiung abbrach – an dem feuchtheißen Ort auszuharren.

Unsere beiden Trainer – männlich und weiblich – gesellten sich übrigens nie zu uns, was ich nur gutheißen konnte. Das einzige, was sie neben dem Abbruch übertriebener Ausharrungsmutproben und saunaabschließender Zöglingsfürsorge taten, war, in regelmäßigen Abständen die Sauna zu betreten, in der wir alle tapfer schwitzten, sich zu dem Blecheimer neben dem Saunaofen zu begeben, ein wenig in den glühenden Kohlen herumzustochern und dann den Aufguß zu initiieren.

Denn ein Ritual war es durchaus. Schon wenn die Trainerin [in den meisten Fällen war es tatsächlich sie] die Sauna betrat, stöhnten wie alle auf. „O nein!“ Ich glaube, das war es, was den Trainern an der Sauna am besten gefallen hatte: diese kollektive Verzweiflung aus unseren, sonst so großspurig tönenden Mündern.

Über der linken Schulter hing – einer namenlosen Bedrohung, einer unbesiegbaren Waffe, gleich – das Handtuch, das böse, unheilbringende. Nach dem Glutstochern bückte sich unsere Foltermagd stets, entnahm dem Metalleimer eine Kelle aus gleichem Material, tauchte sie in das lauwarme Wasser, zog sie heraus – und verteilte deren Inhalt langsam auf den glühenden Kohlen. Es zischte. Es dampfte. Die Atemluft war übersättigt von Hitze und Feuchtigkeit.

Weitere Kellen folgten. Dann war es vorbei. Nun ja, nicht ganz; schließlich mußte die ofenheiße Luft, der glühende Dampf, noch gleichmäßig um unsere nahezu nackte Leiber verteilt werden. Wir sollten schwitzen, schwitzen, schwitzen.

Und wir schwitzten. Die Trainerin nahm das Handtuch von der Schulter, breitete es aus und begann damit, uns die hitzige Luft zuzuwedeln. Wieder und wieder und wieder. Wir vermochten kaum zu atmen. Es roch, es schmeckte, nach Rauch, nach Kräutern, nach heißem Wasser, nach heißer Luft. Unsere Haut sehnte sich, verlangte nach einer Pause, nach Kühle, nach Wasser, nach Wind, kaltem Wind. Doch wir kannten keine Gnade uns selbst gegenüber.

Zumindest nicht, solange die Mädchen noch bei uns verweilten. Sobald diese allerdings gegangen waren, ihr Recht, das „schwächere Geschlecht“ zu sein, einfordernd, nachdem sie uns verlassen, allein gelassen hatten, atmeten wir auf – und rückten nach unten. Eine Stufe, manchmal auch zwei.

Während des Trainingslagers, während der häufigen Saunabsuche, hatte ich die meiste Zeit in der Mitte gesessen und blieb dort. Ich war kein Held, wollte keiner, konnte keiner sein sein. Schließlich war ich nackt.

Eigentlich war niemand nackt. Nicht wirklich jedenfalls. Ich glaube, ich habe während des Trainingslagers niemals eine Mädchenbrust zu Gesicht bekommen. Die Scham war – unter uns allen – groß genug, um unsere primären [und sekundären] Geschlechtsmerkmale – obgleich noch längst nicht ausgebildet – verhüllt zu wissen. Handtücher leisteten dazu gute, ja hervorragende Dienste.

Ein Handtuch in der Sauna war Pflicht; schließlich durften die Holzbänke nicht mit unserem Schweiß getränkt und somit für andere Nutzer unerträglich gemacht werden. Die Handtücher bildeten das Alibi, das uns half, unserer Furcht vor dem eigenen, vor dem fremden Körper begegnen zu können – zumindest, wenn das eigene Handtuch groß genug war. Meines war nicht sonderlich groß. Mit Mühe bedeckte ich meine privatesten Körperteile und beneidete die anderen, deren Badetücher ausreichend Schutz vor argwöhnischen Blicken boten.

Doch nicht nur mit Handtuch war ich unzureichend ausgestattet. Auch ein Waschlappen fehlte mir. Bei den ersten Saunabesuchen war ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, einen Waschlappen mitzunehmen. Warum auch? Ich war ein Badewannenkind, badete täglich, hatte niemals einen Waschlappen benötigt und wendete einen solchen selbst in Ferien- und Trainingslagern nur sehr ungern an. Der Waschlappen war mir kein vertrauter Freund.

Den anderen aber schon. Und nicht nur Freund, sondern auch hilfreicher Lebensretter sollte er sein. Schließlich warfen für gewöhnlich, nachdem wir geraume Zeit inmitten der Feuchthitze vor uns hingeschwitzt, nachdem sämtliche weibliche Wesen [inklusive aufgießender Erwachsener] den kleinen Saunaraum verlassen hatten und keine Gefahr bestand, in der eigenen Waschlappenaktivität ertappt zu werden, alle noch Sitzenden ihre, von Eigenschweiß getränkten Waschlappen in Richtung des metallenen Aufgußeimers, wohl wissend, daß die kostbare, lauwarme Flüssigkeit eine kurze, aber lebensrettende Abkühlung versprach.

Vielleicht stammt als solcherlei Aktivitäten die Bezeichnung „Wachlappen“ für Weicheier, für jene schlappen Nudeln, die großartig zu sein glauben, aber hinter den Rücken anderer ihrer Schwäche nachgeben. Ich trug niemals einen Waschlappen in einer Sauna bei mir – hatte allerdings auch niemals das Bedürfnis, besonderen Eindruck zu schinden, war doch meine Rolle in den Augen der interessanten Objekte anderen Geschlechts längst vergeben – und vermutlich äußerst unbedeutend.

Ich saß auf der mittleren Bank, als das tragische Ereignis seinen Lauf nehmen sollte. Soeben hatte, zusammen mit dem Folterhandtuch der Trainerin [inklusive seiner Besitzerin, natürlich], das letzte Mädchen die Sauna verlassen. Die oberste Reihe war voll belegt, hatte keinen Platz mehr für mich, der die Sauna als letzten betreten hatte, geboten. Mir war das egal, zumindest bis zu diesem Augenblick.

Doch dann flogen die Lappen. Einer nach dem anderen. Nicht alle trafen in den Eimer. Doch das spielte keine Rolle. Wichtiger war, daß die Waschlappen nicht von alleine zu ihren Besitzern zurückkehren würden, daß es eines Freiwilligen bedurfte, um den sehnsüchtig Wartenden ein paar Augenblicke wohltuender Kühle zu vermitteln.

Ich hatte keine Wahl, saß dem Eimer am nächsten. Obgleich ich keinen eigenen Waschlappen hatte, ergab ich mich seufzend meinem Schicksal. Die anderen würden es mir danken, dachte ich und sah nach oben, wo die Jungs träge ihren Schweiß fließen ließen.

Ich stand auf, kletterte die beiden Stufen hinab, bis ich auf dem gekacheltem Boden stand. Die Kacheln waren kühl unter meinen nackten Füßen, und ich verharrte einen Augenblick, um mich darauf zu konzentrieren.

Gegen Ende einer Saunasitzung, saßen normalerweise ein paar von uns gern dort unten, dort, wo die heiße Luft nicht hinkam, dort, wo sie sich ausruhen, erholen konnten, dort, wo ihnen die letzte Möglichkeit verblieb, in der Sauna zu verweilen, ohne sich die Blöße zu geben, schwächer als die anderen zu sein. Es waren die zwei, drei Jungs, die in unseren [und hier konnte ich mich zu den „Besseren“ rechnen] Augen sowieso längst als nicht sonderlich konditioniert, als nicht sonderlich leistungsfähig abgestempelt worden waren. Interessanterweise machte sie das nicht schlechter. Sie hatten das Recht, dort unten zu verweilen, ihre „Ehre“ zu bewahren und trotzdem nicht schwitzend zu kollabieren.

Ich war mir meiner entblößten Scham bewußt, als ich auf den Kacheln stand. Mein Handtuch war nicht ausreichend groß gewesen, um es mir um die Hüften zu binden, hatte auf der mittleren Stufe verweilen müssen, damit ich beide Hände frei hatte, um alle Lappen auflesen zu können. Ein paar von ihnen schwammen im Eimer. Einer hing über dessen Rand. Der Rest lag daneben.
Ich sammelte alle fehlgeworfenen Waschlappen auf und ließ sie sich zu denen im Eimer gesellen.

Dann bückte ich mich, mein Genital mit meinem rechten Arm unauffällig verdeckend, den Blick starr in den Eimer gerichtet. Ich war unvorsichtig, unbedacht, stand ungünstig.

Heiß! Unglaublich heiß brannte es mit einem Mal an meinem Hintern, an meiner linken Pobacke!
Was war geschehen?

Ich hatte mich gebückt und meinen Hintern immer näher an den glühenden Ofen gerückt – bis schließlich der Kontakt zustande kam. Ich schrie auf, ließ alle Lappen fallen, eilte aus der Sauna, ohne an mein Handtuch, an mein entblößtes Genital, an meine „Ehre“ zu denken.

An das nun Folgende kann ich mich kaum noch entsinnen. Eine Untersuchung der Trainer. Erniedrigend. Die neugierigen Blicke, die schockierten Gesichter der frischgeduschten, pulszählenden Mädchen. Erniedrigend. Ich stand im Mittelpunkt, doch wollte es nicht. Der Schmerz war immens, doch schlimmer war es, daß es mein Hintern war, der schmerzte, brannte.

Ein Arzt. Ich entblößte mein Hinterteil, bekam Salbe, Puder und Pflaster verschrieben. Riesige Pflaster. Wenn ich mich setzte, mußte ich aufpassen.

Das restliche Trainingslager lief weitestgehend ohne mich ab. Das war schade, betrübte mich. Ich mochte es nicht herumzusitzen, den anderen zuzusehen, mochte es nicht, im Ruheraum zu warten, bis die ersten aus der Sauna flohen, die gefährliche Hitze mit kaltem Wasser abspülend, mochte es nicht, mit mitleidsvollen Blicken bedacht zu werden.

Nur eines erwies sich als wirklich praktisch, als gut, als erlösend, schenkte mir Trost, ja, zuweilen sogar ein Lächeln:
Für den Rest des Trainingslagers war ich von jeglichen Saunabesuchen befreit!

Eisbecher, Shoppingcenter und Männerecken

Heute war ich mit C shoppen.

„Shoppen“ ist ein eindeutig feminin geprägter Begriff, befürchte ich. Wenn ich das Wort benutzte, veralbere ich mich gern selber damit und beziehe mich meistens auf den Einkauf von Lebensmitteln. Shoppen im Sinne eines ausschweifenden Besuchs sämtlicher zur Verfügung stehender Läden mit dem Ziel, gefallende Dinge nach Belieben anzuprobieren oder zu kaufen [oder beides], gehört normalerweise nicht zu meinem ritualisierten Gehabe.

Eigentlich waren wir auch Eis essen. Im „Palazzo“, einer durchaus erwähnenswert guten Lokalität Magdeburgs, die ich für Eisverzehrzwecke immer wieder gern in Betracht ziehe. Ich gönnte mir ein wahrlich deliziöses Joghurt-Bananen-Eis; C erwählte einen Cherry[/Sherry?]-Eisbecher.

„Bin ich komisch?“, fragte sie mich.
„Ja.“, antwortete ich, denn jeder Mensch, den ich besser kenne, hat seine Eigenarten. Es ist normal, komisch zu sein.
Sie jedoch ließ nicht locker, glaubte in den Augen anderer abschreckend-befremdlich zu wirken.
Ich redete dagegen an.

Irgendwann waren die Eisbecher geleert.
„Ich brauche noch ein helles Shirt.“, meinte C.
„Ich brauche noch Brötchen.“, meinte ich.
Wir begaben uns in ein Hier-Finden-Sie-Alles-Einkaufscenter, von denen es hier nur so wimmelte. City Carré. Ulrichshaus. Allee-Center.
Wir begaben uns in ein Kleidungsfachgeschäft für junge Frauen, von denen es hier nur so wimmelte. H&M. New Yorker. Pimkie.

Ich erwog, den allgemeinen Antrag zu stellen, daß in Läden wie diesen „Männerecken“ eingerichtet werden sollten.
H&M Magdeburg beispielsweise umfaßt zwei Etagen. In einem Drittel der oberen Etage findet man Herrenbekleidung. Der Rest ist für die Frau gedacht. Ebenso wie Läden, die sich Pimkie oder Orsay nennen.
Wie schön wäre es doch, wenn frau [Ja, ich verwende das Wort „frau“ absichtlich, um meine Abscheu ihm gegenüber zu verdeutlichen.] ihre männliche Begleitung einfach abgeben könnte. Mit Kindern geht das doch auch. Diese werden in eine Spielecke verfrachtet und vergnügen sich dann solange, bis Mami vom Einkauf zurückkehrt.

„Achtung! Achtung! Ein Durchsage. Der attraktive Peter möchte von seiner Freundin aus der Männerecke abgeholt werden.“

Ich weiß nicht genau, was ich mir unter einer Männerecke vorstelle. Wichtig ist, daß die männlichen Wesen dadurch davon abgehalten werden, im Gang des Frauenbekleidungsfachgeschäfts herumzustehen und eingeschüchtert zwischen Push-Up-BHs und geblümten Sommerkleidchen darauf zu warten, daß die Freundin/Frau fragt:
„Und? Meinst du, mir steht das? Soll ich das mal anprobieren?“

Einem typischen Klischee folgend gäbe es in der Mänerecke einen Getränkeautomaten mit genügend großem Bierangbeot und einen Fernseher mit entsprechendem Sportprogramm.
Das kann ich natürlich nicht gutheißen.
Schließlich müßten die Frauen dann mittels Kleingeldzuteilung den Bierkonsum in der Männerecke beschränken. Auch wäre es dann nötig, eine Aufsicht einzustellen, die darüber wacht, daß die sich Herren unter ihresgleichen nicht rüpelhaft oder gar primatenartig aufführen.

Für mich darf die Männerecke auch neutral gehalten werden. Sowohl, was die Farbe als auch was das Interieur anbelangt. Von mir aus soll es Sport- und Autozeitschriften geben, vielleicht auch irgendwelche reich bebilderten Nacktfrauenheftchen. Das sei mir egal. Das Wichtigste ist, daß ich nicht mit albernen Fragen überhäuft werde, nicht inmitten überbunter, erstaunlich stoffarmer, dafür jedoch wenig preiswerter Frauenklamotten herumstehe und mich überflüssig fühle.
Mir reicht ein Sitzplatz und ein gutes Buch. Oder ein Micky-Maus-Heft. Ich bin da nicht sehr anspruchsvoll.

Zu teuer. Schlechter Stoff. Häßlich.
C klapperte alle verfügbaren Läden ab, wurde aber nicht fündig. Enttäuscht und wenig motiviert wendete sie sich bereits dem Einkaufcenterausgang zu.

„Und was ist mit Orsay?“, fragte ich fachkundig.
„Ach ja.“, antwortete sie und stürmte schon in Richtung des Ladens.

‚Und wieder fehlt die Männerecke.‘, stellte ich fest und setzte mich auf einen rosafarbenen Stuhl, der der Form des menschlichen Hinterns angepaßt war. C durchstreifte suchend den gesamten Laden. Irgendwo mußte es doch etwas Weißes, Schlichte, Preiswertes geben.
Letztendlich wurde sie fündig, verschwand in der Umkleidekabine.

Ich atmete auf. Vielleicht trennte mich nur noch eine Frage vom rettenden Ausgang.
„Und? Wie findest du’s?“
C stand vor der Umkleidekabine und präsentierte das erwählte Oberteil.

„Schlicht, aber schick.“, meinte ich.
Sie beschaute sich noch einmal im Spiegel, gab mir dann recht, zog sich wieder um und reihte sich in die Kassenschlange ein.
„Erstaunlich.“, stellte ich fest. „Das Shirt kostet genausoviel wie dein Eisbecher.“
C lachte.
„Die haben die Preise bestimmt aufeinander abgestimmt.“, mutmaßte ich verwegen auf dem Weg zum Ladenausgang.

Eine geistig abwesende Bäckersfrau verkaufte mir noch ein paar Brötchen, und wir verließen das Einkaufscenter.
‚Geschafft!‘, dachte ich glücklich.
Die Sonne schien, das Eis war lecker gewesen, das Shirt entsprach Cs Ansprüchen und sämtliche Läden lagen hinter mir. Erleichtert atmete ich auf.

Plötzlich blieb C stehen und schaute mich an.
„Bin ich eigentlich zu dick?“

Nicht normal

Als ich heute über den Campus lief, wurde ich angesprochen.

Im Nachhinein verwunderte mich das; schließlich hatte ich mir die Ohren mit Krach verstöpselt, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Mir hingen Haare wild ins Gesicht, und mein Äußeres war nicht darauf ausgelegt, freundlich und zuvorkommend zu wirken. Auf meiner Stirn prangte eine tiefe Runzelfalte, die meiner derzeitigen, unfröhlichen Stimmungslage Audruck verlieh.

Das Mädchen, die junge Frau, rannte mir in den Weg, sprach mich an, obgleich ich sie noch gar nicht vernehmen konnte, stellte sich vor mich und redete. Ich zog die Kopfhörer aus dem Ohr, schaute sie fragend an.
Sie stammte aus der Türkei, vielleicht auch aus dem Iran. Genau vermochte ich das nicht zu sagen.

„Entschuldigung.“, wiederholte sie sich, „Wo ist denn hier eine Fachhochschule?“

Ich überlegte kurz und begann dann zu erklären. Ich teilte ihr mit, daß sie hier falsch sei, wo sie hinmüßte, welche Straßenbahn zu nehmen sei, versuchte auch, die Entfernung abzuschätzen, die ungefähre Fahrtzeit.
Doch sie hörte mir nicht zu, schaute desinteressiert in der Gegend rum.

Ohne auf meine Antwort einzugehen, stellte sie eine weitere Frage.
„Hast du vielleicht zwei Minuten Zeit?“
Wieder schaute ich sie fragend an.
„Dann könnten wir uns irgendwohin setzen und reden. Über meine zwei Kinder.“

Über ihre Kinder? Bitte was?
Sollte ich auf sie aufpassen? Sollte ich sie kaufen? Sollte ich sie überhaupt erst zeugen?

„Nein.“, antwortete ich mit Bestimmtheit.

Meine Mutter unterstellte mir einst eine Sprachkrankheit: Ich könne nicht ‚Nein‘ sagen, wenn jemand etwas von mir wünschte. Doch diesmal konnte icn, denn das Ganze schien auf irgendeine Art von Bettelei hinauszulaufen. Und mit der Fachhochschule hatte es bestimmt nichts zu tun.

„Warum nicht?“, fragte sie fordernd, unwillig, mein ‚Nein‘ zu akzeptieren.
„Weil du mich hier anbettelst. Und das mag ich nicht.“

Sie war empört, entrüstet.
„Wie kommst du jetzt auf anbetteln?!“

Ich wollte etwas erwidern, doch sie war schneller, musterte mich abschätzend von oben nach unten und meinte:
„Du bist nicht normal.“
Dann eilte sie von mir fort.