Das Wort des heutigen Tages sei
Geifer.
Bevor ich die geifernden Stimmen aus dem imaginären Publikum vernehme, die sich darüber auslassen, wie eklig dieses Wort doch sei, biete ich eine kleine Erklärung an:
Ich wohne im Dachgeschoß. Dächer verfügen über die zuweilen unerfreuliche Eigenschaft, sich in den oberen Regionen eines Bauwerkes aufhalten zu wollen, weswegen meine Etage nur über inexistente Fahrstühle oder unzählige Treppenstufen erreichbar ist.
Einhundertunddrei. 103. Das ist die Zahl der Stufen, die ich täglich mehrfach begehe. Hoch und runter. Runter und hoch.
Wenn ich mich beeile, schaffe ich es, in weniger als zwei Minuten den Müll runterzubringen. Wenn ich aber einen schlechten Tag erwische, benötige ich deutlich länger, krieche die einzelnen Stufen herauf, schleiche mühevoll an von der Putzfrau übersehenen Einkaufszettelfetzen und unter das Geländer geklebten, durchgekauten Hubbabubba-Kaugummis vorbei, ärgere mich über den gehässigen Feuermelder, der mir anzeigt, daß ich noch zwei weitere Etagen, also vierzig unüberwindbare Stufen, zu erklimmen habe.
Heute war kein schlechter Tag, doch meine Mitbewohnerin begleitete mich, vom Mensaessen gesättigt und mit innerer Trägheit überflutet. Den Wohnungstürschlüssel in der rechten Hand haltend [Ich hatte meinen versehentlich vergessen.] schlich sie die Stufen hinauf, bei jedem Treppenabsatz aufstöhnend.
Ich hatte genug Zeit, nebenbei den prozentualen Anteil bereits hinter uns gebrachter Stufen zu dem noch zu besteigender im Kopf ins Verhältnis zu setzen und mit allerlei Zahlen zu jonglieren, die Namensschilder der unter uns Wohnenden intensiv zu betrachten, den orangfarbenen Kaugummi einer gründlichen Musterung zu unterziehen und die Dreckkrümel auf dem Boden zu zählen.
„Was ist DAS!?“, fragte meine Mitbewohnerin angewidert und deutete auf einen schwarzen Fleck am Boden.
Im ersten Augenblick hielt ich es für Schmutz, für irgendeine organische Flüssigkeit, die sich nach mehreren Tagen in eine feste, schwarze Substanz verwandelt hatte.
„Ein Brandfleck?“, mutmaßte meine Mitbewohnerin.
Ich gab ihr recht, denn tatsächlich sah der schwarze Fleck aus, als wäre er eingebrannt worden. Nun ja, nicht ganz, eher, als wäre das Linoleum der Treppenstufe kurz Zeit großer Hitze ausgesetzt gewesen – allerdings nur an dieser einen Stelle, deren Durchmesser vielleicht drei Zentimeter betrug.
‚Säure!‘, dachte ich plötzlich, stellte mir vor, wie ein verrückter Wissenschaftler mittels einer Pinzette ein paar Tropfen hochkonzentrierter Schwefelsäure auf den Boden träufelte und wohlig sabbernd die vom verkohlten Linoleum aufsteigenden Dämpfe inhalierte.
Moment. Sabber? Säure? Da war doch was!?
Na klar: Aliens!
Und nun war alles klar.
Kein Brand, keine verderbliche Flüssigkeit, kein verrückter Wissenschaftler hatte zur Entstehung des mysteriösen schwarzen Flecks beigetragen. Nur ein riesiges, häßliches, von Sigourney Weaver verschontes Alienmonstrum, das im Treppenhaus heimlich arglosen Mietern aufgelauert und dabei seinen ätzenden Geifer auf irgendeiner der 103 Stufen verteilt hatte…
Und schon setzte sich das Wort Geifer in meinen Schädel und verleitete mich zu der Feststellung, daß es nicht nur einen interessanten und ungewohnten Klang besaß, sondern unbedingt zum Wort des Tages gekürt werden sollte.
Allerdings werde ich wohl in der nächsten Zeit nicht mehr Rad fahren. Wer weiß, was sich im Fahrradkeller versteckt…
Und wieder einmal freue ich mich darüber, im Erdgeschoss, unweit der Eingangstüre zu wohnen. Dennoch musste ich heute Treppen steigen wie ein Domglockenläuter im Mittelalter, da ich einem Freund beim Umzug half. Und der hatte vor Jahren nichts besseres zu tun als sich eine Wohnung unterm Dach zu anmieten. Ohne Aufzug versteht sich.
schönes wort, in der tat. Wobei „schön“ es natürlich nicht trifft, doch es hat Potential zu einem dieser Wörter, deren Klang mich fasziniert obwohl ich es nie schaffen werde, zu beschreiben, woran das liegt. Ja, ich glaub, das kommt auf die Liste…
REPLY:
Nachtrag: Mir wurde mitgeteilt, daß Aliengeifer gar nicht ätzend sei. Einzig und allein das Blut würde derartige Flecke hervorrufen können. Nun ja, das kann nur eins bedeuten: Ich habe mich geirrt. Neben dem Alien gibt es noch einen Alienfeind, vermutlich Sigourney Weaver oder gar ein Predator, der den ALien leicht verwundete, so daß dieser ein Bluttröpfchen auf das Linoleum verpritzte, bevor er sich seinem ANgreifer widmete…
In den Keller gehe ich trotzdem erstmal nicht…
@Freidenker: Ich wohne in einer WG. 5 Leute. Ständig zeiht wer ein oder aus. Da stören die Stufen tatsächlich manchmal. Vor allem, wenn jemand seine Hantelsammlung transportiert haben möchte. Ich glaube, es gibt bei einem Umzug nichts Sinnloseres als Hanteln durch die Gegend zu tragen…
@assoziativspeicherin: Schön… Freue mich, daß Ihnen dieses Wort auch zusagt und daß ihm die Ehre zuteil werden soll, auf die exklusive Liste gesetzt zu werden…