Italienische Ninjasterne

1997 war ich in Italien, in einem Ferienlager.

Es war ein schrecklicher Urlaub. Der Reiseveranstalter, Rainbow-Tours, war äußerst unsympathisch, die Betreuer [„Animateure“] faul, desinteressiert und versoffen, das Hotel mies, das Essen schlecht. Die Italiener belaberten alles, was einigermaßen weiblich aussah. Die Mädels, die mit uns mitgereist waren, interessierten sich nur für die überteuerten Diskotheken. Der Strand war langweilig, die Stadt nur für Touristen errichtet.

Ich war neugierig, wollte etwas sehen, hatte wenig Begeisterung übrig für lautstärkeintensive Massentanzveranstaltungen, tendierte schon damals in eher gitarrenorientierte Musikrichtungen, streifte in abendlichen Stunden durch das städtische Kunterbunt, ließ mich von dem Menschengewühl, von Che Guevara Postkarten und Grasverkäufern beeindrucken.

Der erste unserer Ausflüge ging nach San Marino. Ich kann mich an San Marino selbst kaum noch erinnern. Ziemlich burgig, viele Mauern, kleine Gassen, ständig ging es bergauf. Und überall gab es Waffenläden und solche, in denen zuhauf Raubkopien angesagter Musikstücke verkauft wurden. Ich erwarb zwei Souvenire, die sich auch heute noch in meinem Besitz befinden:
Zum einen das Nirvana-Album „Nevermind“. Natürlich auf Kassette, gab es doch in San Marino nichts anderes. Außerdem bekam ich so neue Nahrung für meinen Walkman, Abwechslung von dem Italo-Diskopop-Einerlei.
Zum anderen kaufte ich in einem Waffenladen einen Ninja-Stern. Waffenläden üben auf Jugendliche einen eigenartigen Reiz aus, protzen mit Macht und Gefahr, mit silbernen Klingen und verzierten Pistolenläufen. Ich war begeistert, fasziniert, wollte mir selbst unbedingt irgend etwas kaufen. Doch mangelte es mir sowohl an äußerlich sichtbarer Reife als auch an finanziellem Potential.

Dann sah ich den Ninja-Stern. Dessen scharfe Kanten waren weitaus weniger scharf als sie sein sollten und seine asiatische Inschrift zeugte von äußerst geringer San-Marino-Verbundenheit. Aber er war billig. Umgerechnet 1,50 DM. Ich kaufte den Stern, verwahrte ihn sicher in meinem Portemonaie.

In unserem Hotelzimmer probierte ich ihn aus, Nirvana im Ohr. Er ließ sich gut werfen, flog weit, doch blieb nirgendwo stecken. Nicht scharf genug, mutmaßte ich. Ich überlegte, ob ich ihn auf eine Kette fädeln und umhängen sollte – ein entsprechendes Loch war vorhanden. Doch der Ninjastern war zu groß, zu protzig, zu albern. Ich ließ es sein, verstaute ihn wieder und freute mich, ein derart praktisches Souvenir erworben zu haben.

Der zweite Ausflug brachte uns nach Venedig. Zu keinem Zeitpunkt meines Lebens habe ich jemals Venedig mit „Romantik“ in Verbindung gebracht. Ich war nicht sonderlich interessiert. Für mich war Venedig nur eine ausländische Stadt, die viel Unbekanntes beinhaltete, das auf seine Art und Weise schön war.

Auf der Rialtobrücke wurde vor Taschendieben gewarnt; ich schoß ein Photo von unseren Mädels, beobachtete begeistert ein Krankenboot, das mit jaulender Sirene durch die Kanäle düste. Ich interessierte mich nicht für die albernen Masken, nicht für die dargebotenen Kleidungsstücke und Schuhe. Die Bauwerke waren beeindruckend, oder hätten es sein können – ohne all den Dreck und den Taubenkot.

Auf dem Markusplatz fand unser Stadtbummel ein Ende. Mein Kumpel und ich streiften zwischen den Säulen hin und her; ich trat nach den Tauben, die trotz ihrer Behäbigkeit noch schnell genug waren, um ein paar Meter von mir wegzuflattern und sich in Sicherheit zu bringen.

Wir suchten Chinesen oder Japaner. Ich wollte unbedingt wissen, was auf meinem Ninjastern stand. Die Anzahl an Asiaten war für eine Touristenmetropole erstaunlich gering. Wir brauchten eine Weile, bis wir einen entdeckten. Freundlich sprach ich ihn an:
„Sorry. Do you know what that means?“
Ich zeigte ihm den Metallstern.
Er lächelte, besah sich die Inschrift, überlegte, schaute erneut.
„These are very old characters.“, meinte er, doch hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, konnte mir nicht weiterhelfen.
Ich war betrübt, doch nicht sehr. Denn eigentlich war egal, was auf dem Stern stand; bis heute weiß ich nicht, ob es sich nun um Japanisch oder Chinesisch oder gar um eine völlig andere Sprache handelt.

Erschöpft ließen wir uns auf den Stufen am Markusplatz nieder, so wie alle Touristen. Wir fanden ein nettes Plätzchen, hatten eine schöne Sicht auf den Dogenpalast, vor dem Touristen in langer Schlange anstanden. Überall waren Tauben, in der Luft, vor uns, hinter uns.

Direkt neben mir saß eine Italienerin. Sie trug ein ärmelloses, beigefarbenes Oberteil und filmte mit einer Kamera die Sehenswürdigkeiten, die Tauben und ihre Familie. Sie redete. Unablässig quoll ein kommentierender Wortschwall aus ihrem Mund, ununterbrochen formte sie für mich unverständliche Laute.

Mit einem Klatsch landete ein riesiger Haufen Taubenkot auf ihrer linken, nackten Schulter. Angewidert, erschrocken, entsetzt sprang ich auf, untersuchte angegekelt mein T-Shirt, meine kurzen Hosen, ob ich nicht eventuell ein paar Spritzer abbekommen hatte, fand nichts, war erleichtert. Die Italienerin filmte weiter, redete weiter, hielt nicht inne, hatte nichts mitbekommen, nichts bemerkt. Auf ihrer Schulter klebte ein grau-weißer Fleck stinkender Taubenfäkalien, doch sie wußte es nicht.

„Was für ein Urlaub.“, dachte ich, „Alles Scheiße, doch keiner merkt’s.“