Diskoprediger

Der Papst lag im Sterben, und der unwiderstehliche Drang nach tänzelnden Bewegungen trieb uns zu dem Beschluß, die Hallenser Studentendiskothek „Turm“ mit unserer Anwesenheit zu beehren. Dort sollte die sogenannte „Darkness-Party“ stattfinden, bei der sich auf zwei Etagen bzw. „Floors“ schwarzbetuchte Wesen auf und neben der Tanzfläche tummeln würden.

Allerdings wurden wir noch vor dem Betreten des Moritzburgturmes und der dort ansässigen Tanzlokalität einer buntgekleideten Menschenmeute gewahr, die nicht so recht in das Bild zu passen schien, das wir uns von den potentiellen Partybesuchern ausgemalt hatten, und die mehr oder minder reglos am Eingang zur oberen Etage herumstanden.

Verwundert wählten wir den zweiten Eingang, den für den unteren Floor, zahlten Eintritt und fanden sowohl Gleichgesinnte und Bekannte als auch eine Erklärung: Oben fand wohl eine Art christlicher Veranstaltung statt, womöglich gar aufgrund des erwartbarens Papstablebens, die natürlich nicht von unsereins gestört werden durfte. Dergleichen konnte der zu unserem Grüppchen gehörige M feststellen, als er bei seinem Versuch, die obere Etage zu betreten gefragt wurde, ob er an Jesus Christus glaube.

Ich fand die Vorstellung durchaus amüsant, daß oben die – ich nenn sie jetzt einfach mal – Christen und unten wir böse, unhelle Gestalten zugange waren – ein perfektes Himmel-Hölle-Klischee. Weniger amüsant fand ich die Tatsache, daß auf unserem Floor nur unerträglich-monotone Rumsbumsmusik gespielt wurde und ich daher gern auf den Alternativfloor ausgewichen wäre, so er zur Verfügung gestanden hätte. Ähnliche empfanden wohl auch andere Dunkelwesen, die höllischen Heerscharen gleich nach oben stürmte, sobald die Himmelspforten geöffnet worden waren. Die Christen wirkten perplex, als sie sich plötzlich mit einer schwarzen Meute konfrontiert sahen; die Grufties entflohen alsbald wieder nach unten, allerdings weniger vor den versammelten Christen als vor den oben vernehmbaren HipHop-Klängen.

Nach einer Weile leerte sich die obere Etage, und tatsächlich wagten es einige der Christen zu uns, nach unten. Einer von ihnen, ein junger Mann in grünem Kapuzenpullover, betätigte sich als Prediger, stellte sich mit aufgeschlagener Bibel an eine Mauerwand, hob den rechten Arm und versuchte, mit seiner Stimme gegen die dezibelstarke Rumsbumsmusik anzukämpfen. Ungläubig und amüsiert zugleich schauten wir Finsterwesen dem Treiben der Lichtgestalt zu, die alsbald Gesellschaft von zwei weiblichen Wesen bekam, die ihrerseits ebenfalls, wennauch ohne Bibel, zu predigen begannen. Ich hörte kein einziges Wort, dafür war die Umgebung zu laut, doch stellte fest, daß eines der beiden weiblichen Wesen während seiner Rede immer wieder zwei Schritte vor und zurück ging, als würde es zu einem Takt tanzen, der keineswegs dem der Rumsbumsmusik entprach.

Schwarze Gestalten scharten sich um die Predigenden, doch taten nichts weiter als zu reden oder sich intensiv zu küssen, wollten vermutlich deren Lächerlichkeit verdeutlichen. Schließlich käme keiner von uns auf die abstruse Idee, in kirchlichen Gemäuern das eigene, unhelle Gedankengut lauthals verkünden zu wollen.

Die beiden Gefährtinnen wichen, zurück blieb der erste Prediger, den ich anfangs für erstaunlich mutig, mittlerweile aber für gefährlich fanatisch hielt. Schließlich ist zu bekehrender Satanismus unter schwarzen Tanzvolk eher selten vertreten und wird zumeist müde belächelt. Auch bin ich der Ansicht, daß die meisten der Anwesenden sich schon intensiver mit verschiedensten Glaubensrichtungen auseinandergesetzt hatten, als man auf den ersten Blick vermuten konnte.

Der Prediger jedoch ließ nicht locker, begab sich gar zum Discjockey, womöglich um ein Mikrophon für seine Ansprachen zu erbitten, vielleicht sogar, um die Auflösung der Veranstaltung zu erwirken. Dieser winkte müde ab, wurde aber weiter mit Worten bombadiert. Er schüttelte immer wieder matt und schließlich auch sichtlich genervt mit dem Kopf, verwies den Prediger an Umstehende – und spielte zwei Schwarztanzklassiker, zu denen sich immer wieder gern rhythmisch bewegt wird, die jedoch in dieser Konstellation kein Zufall mehr sein konnten: Zuerst lockte uns Das Ich mit „Gottes Tod“ auf die Tanzfläche, entlockte uns gar ein schelmisches Grinsen, danach folgte Oomph mit „Der neue Gott“.

Von diesen beiden Liedern scheinbar schwer getroffen, fiel der Prediger auf die Knie, weitere Worte von sich gebend, verweilte noch mitten auf der Tanzfläche, als die Musik längst wieder zu ihrem üblichen Rumsbums zurückgekehrt war.

Später sah ich ihn, wie er unhelle Gestalten zu bekehren/belehren versuchte und dabei immer voll von wildem Eifer wieder auf Stellen in seiner Bibel zeigte.
Ich, der, wenngleich ohne Gottesglaube aufgwachsen, anderen Religionen gegenüber durchaus offen zu sein versucht, teilweise sogar echtes Interesse empfindet, ich, der mit mehreren Katholiken und „Protestanten“ engere Freundschaften pflegt, ich, der sich eigentlich stets als guter Mensch begriffen hatte, fühlte mich schlecht und gottlos, fühlte mich wie auf der falschen Seite des Lebens befindlich, obgleich mein abendliches Ansinnen in nichts Üblerem bestanden hatte, als mich zu den Takten bekannter Lieder bewegen und mich mit befreundeten Wesen treffen und unterhalten zu wollen. Für einen Moment war ich voller Gram, zunächst dem Prediger, dann mir selbst gegenüber.

Ich verscheuchte meine Gedanken beim Besuch der oberen Tanzfläche, wo eher alternativen Gitarrenklängen und Synthetischem aus den 80ern der Vorzug gegeben wurde. Als ich zurückkehrte, war der Prediger verschwunden. Noch während ich die Menschenmenge nach ihm durchforstete, trat ein junger Mann an mich heran, reichte mir ein winziges ‚Evangelium nach Johannes‘ und sagte:
„Gott segne dich.“

Verwirrt murmelte ich einige Dankesworte und sah ihn in den schwarzen Massen verschwinden.