relativ

Erstaunlich, daß heute scheinbar jeder die allgemeine und spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins versteht und erklären kann.

Zu seinen Lebzeiten gab es nach eigener Aussage nur drei, die das konnten. Und nun, im Rahmen des fabulös-fantastischen Einstein-Jahres, begegnet man an allen Ecken überschlauen Büchern, hochbrisanten Artikeln, superspannenden Fernsehsendungen und pseudointelligenten Menschen, die jene großartige Theorie auch für sabbernde Vakuumköpfe und notorische Nichtversteher begreiflich zu machen wissen, die mit wenigen, simplen Worten das zu erläutern vermögen, was für eine der größten und bedeutsamsten Erkenntnisse der Wissenschaft des 20.Jahrhunderts gehalten wird, die sich also anmaßen, daß sie im Jahre 1915 zu den ominösen drei Megacheckern gehört hätten.

Unverständlich.

Tropfen

Es schneit.
Erneut.
An meinem Fenster schmelzen die Flocken zu silberklaren Tropfen.
Sturz auf Glas und dann sich selbst aufgegeben.
Langsam kriecht das Naß die Scheibe hinab, um schließlich noch tiefer zu stürzen.

Es schneit Tränen.

Abschied

Der Blick durch die zerkratzen Scheiben der Straßenbahn gilt der altbekannten Temperaturanzeige. 1,6° Celsius. 9 Uhr morgens.

Ich bedaure den Winter, der sich langsam auf den Heimweg zu begeben hat, schenke ihm mitleidige Gedanken. Als ich aussteige, bemerke ich letzte, schmutzige Reste Schnee. Wie vergessene Vergangenheiten liegen sie im Matsch und beweinen ihr Vergehen mit eisigen Tränen.

Erstmalig vernehme ich das süße Trillern einiger Singvögel. Eine Amsel läßt sich neben mir nieder und berührt mich mit ihrem Lied. Adieu, lieber Winter. Selbst die Vögel wissen, daß du gehst.

Gern hätte ich noch einen Schneemann gebaut, Schuhabdrücke in unberührtes Weiß gesetzt. Gern wäre ich noch einmal tanzend durch die Schneewinde gelaufen, hätte versucht, die kalten Flocken mit der Zunge zu fangen.

Und wie als Antwort beginnt es zu schneien, erst leise, lieblich, dann stärker. Schneeflocken wirbeln in mein Gesicht, in mein Haar. Unzählige weiße Küsse taumeln mir fröhlich entgegen.

Gerührt halte ich die Zeit an, bedanke mich lächelnd für diesen zauberhaften Abschiedsgruß.

Nachtrag zum Frauentag

Zufällig mit einer ehemaligen Mitbewohnerin konfrontiert, nutzte ich gestern die Gelegenheit, ihr „Alles Gute.“ zum Frauentag zu wünschen. Was wünscht man eigentlich zu Frauentag? Schenkt man irgendwas? Ich weiß es nicht. „Alles Gute.“ finde ich akzeptabel, ist schließlich allgemein genug gehalten, um immer zu passen. Im Laufe des Gesprächs kam heraus, daß wohl gewisse Begebenheiten innerhalb meiner Vergangenheit darauf hindeuten, daß auch ich einen netten Gruß zum Frauentag gebrauchen könnte, wurde ich doch schon oft genug für ein feminines Wesen gehalten. Ich lehnte dankend ab, doch die einmal geweckten Erinnerungen konnte ich nicht mehr vertreiben.

Zu Beginn meines Studiums beherrschte mich noch der Wunsch, an studentischen Großveranstaltungen teilhaben zu wollen. Warum, weiß ich auch nicht, kann ich doch nicht sagen, daß ich bei derartigen Veranstaltungen sonderlich viele nette Menschen kennenlernte oder übermäßig viel Spaß hatte. Doch mich trieb es hinaus, ich wollte in den feiernden Massen versinken – und sei es nur um festzustellen, daß ich nicht zu ihnen gehörte.
So begab es sich, daß ich auf einem sogenannten Beschnüfflungsball verweilte. Die einzige Gemeinsamkeit mit einem „echten“ Ball war vermutlich, daß unzählige amüsierwillige Menschen dort aufzufinden waren. Selbst Musik lief keine. Allerdings wurde auf drei Etagen der Versuch unternommen, mit schlechten Popsongs der 80er, mit noch schlechteren Dancefloorkrachern der derzeitigen Hitparaden und mit tanztaktorientiertem Techno-/House-Bässen [inklusive simpelster Dreitonkeyboardmelodien] „echte“ Musik zu imitieren, so daß die schwitzende, trinkende Meute ausreichend ihr Tanzbein schwingen oder mit ihrem Hintern wackeln konnte.
Innerhalb solcher Veranstaltungen ist Nüchternheit so etwas wie ein Tabu, nicht zuletzt, weil man aus Selbstschutzgründen permanente Eigenbetäubung vornehmen sollte. Doch dazu war ich nicht gewillt und besuchte abwechselnd alle drei Etagen, ganz in Schwarz, mit einem schicken Samthemd bekleidet, die langen Haare rebellisch offen, bewaffnet mit einem nahezu geleerten Plastikbecher, der nichts Bedeutsameres als fade Cola enthielt. Damals versuchte ich, mir einzureden, ich suchte auf den verschiedenene „Floors“ nach richtiger Musik, heute weiß ich, daß ich eigentlich floh.
Als ich meinen vergeblichen Fluchtversuchen eine Pause gönnte und mich irgendwo am weniger belebten Rand positionierte, drang ein vernuscheltes „Hey!“ von hinten an mein Ohr. Ich war nicht willens, mich umzudrehen und reagierte erst, als ein zweiter Laut ertönte: „Hey du!“ Vor mir stand einer dieser H.P. Baxxter-Verschnitte, die in Magdeburg so häufig anzutreffen waren: kurzes, blondiertes, mit Gel beschmiertes Haar, krebsgesundes Sonnenstudiobraun, ein biergefüllter Plastikbecher in der einen und eine glühende Zigarette in der anderen Hand.
Als ich mich umgedreht hatte und wir uns gegenseitig in die Gesichter blicken konnte, reagierte er alkoholpegelbedingt in Zeitlupengeschwindigkeit: „Äh … Du bist ja … n KERL!“
Ich schenkte ihm ein bestätigendes, aber geringschätzendes Lächeln und wandte mich wieder ab. Allerdings vernahm ich noch, wie H.P.Baxxter zu seinen Begleitern torkelte und von seinem Erlebnis berichtete: „Ey, der Typ ist gar keine Frau. Alder…“

Wenn ich später irgendwem von dieser mir durchaus unangenehmen Geschlechterverwechsulng berichtete, wurde mir stets versichert, ich sähe maskulin aus und sei keineswegs mit einem Weibchen zu verwechseln. Ich war geneigt, diesen Beteuerungen Glauben zu schenken und die Verwechslung, die für mich wohl peinlicher gewesen war als für den potentiellen Verehrer [der davon sowieso nicht viel behalten haben wird], auf dessen stark alkoholisierten Zustand und seine dadurch stark eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit zu schieben.
Doch leider blieb es nicht dabei.

Einst arbeitete ich im Kaufland als Wursteinsortierer. Kein sonderlich aufregender oder gar angenehmer Job, insbesondere weil ich nicht behaupten kann, zu meinen Kolleginnen gute Kontakte gepflegt zu haben. Mir mißfiel unter anderem die Tatsache, daß ich genötigt wurde, aus gesundheitstechnischen Gründen mich mit einem lächerlichen, weißen Kittel zu bekleiden. Ich hatte schließlich keinerlei Umgang mit Nahrunsgmitteln und kam nur mit den zugeschweißten Plastikverpackungen der Wurstsorten in Berührung.
Eines Tages kniete ich nieder, um in der untersten Kühlregaletage Sülzwurstpackungen zu stapeln. Ein Mann trat an mich heran, ich sah nur seine verwaschen-blauen Jeans, und sagte: „Ich wollte schon immer, daß eine Frau so vor mir kniet.“ Sein Genitalbereich befand sich direkt vor meinem Gesicht.
Schockiert rückte ich ein Stück von ihm weg, schaute hinauf. Seine Gesichtszüge entgleisten, als er mein unrasiertes Gesicht erkannte und ihm bewußt wurde, daß er sich wohl geirrte hatte. Ich teilte ihm mit, daß er wohl schwul sein müsse, wenn er wollte, daß ich vor ihm kniete, und er beeilte sich, eine alberne Ausrede murmelnd meinem Sichtfeld zu entfliehen.

Bis heute sage ich mir: Der Kittel war schuld. Der dämliche, asexuelle Kittel war der Grund für die wiederholte Verwechslung.
Doch sicher bin ich mir nicht.