straßenbahnerlebnisse 2

ihre kleidung war leger, unkonventionell, auf dezente art und weise „anders“. sie las zeitung, keine der hiesigen lokalzeitungen, irgendein, mir unbekanntes tagesblatt. wie einen schild hielt sie die die bedruckten seiten nach oben, immer wieder umblätternd, sich vom restlichen straßenbahngetümmel abgrenzend. ja, man könnte sogar behaupten, sie isolierte sich von der welt, obgleich sie gerade dabei war, die geschehnisse in ebenjener welt nachzulesen.

hinter sie setzte sich ein paar im rentenalter. ich vermochte nicht viel zu erkennen, starrte ich doch auf ihre bemützten hinterköpfe. soviel sei gesagt: die mützen waren weder modisch, noch formschön, extravagant oder überhaupt nur interessant. die der frau war ein weißes ausgebeultes stück stoff, das nahezu den ganzen kopf bedeckte. alles, was es nicht vermochte, erledigte ein häßlichbraunkarierter schal. die mütze des mannes war von der sorte, die durch den pseudopopstar ben gewisse berühmtheit erlangt hatte – konnte aber auch schon jahrzehnte alt sein. ihr farbton lag irgendwo zwischen braun, grau und grün. auffällig an ihr war vor allem, daß der mann sich die mühe gemacht hatte, sie umzukrempeln, so daß sie nur einen geringen teil seines dickbackigen, schlecht rasierten, roten kopfes zu bedecken vermochte. die ohren blieben frei. das verwunderte mich ein bißchen.

warum, fragte ich mich, müssen ältere leute sich eigentlich prinzipiell in grau- und brauntöne kleiden? warum war beige die am häufigsten gesehene farbe bei menschen über 60? sollte so versucht werden, sich dezent aus dem vordergrund zurückzuziehen, unauffällig zu wirken, niemandem zur last zu fallen, sich womöglich gar farblich an zukünftige, erdige aufenthaltsorte anzupassen?

die beiden älteren personen schauten grimmig aneinander vorbei aus dem fenster und redeten, ohne einander zuzuhören: das übliche genuschelte geschimpfe, das irgendwie zu jedem thema eine abfällige meinung zu beinhalten vermochte. die zeitungsleserin legte ihre zeitung nieder, drehte sich um und unterbrach das sinnentleerte gespräch, indem sie sich danach erkundigte, ob die nächste haltestelle die richtige sei, um zum bahnhof zu gelangen.

die daraufhin erfolgenden antworten hätten sowohl ein ja als auch ein nein sein können, eigentlich sogar beides gleichzeitig. mit stammelnden, genuschelten worten versuchte der ältere mann zu erklären, wie sich die junge frau zu verhalten hätte, sobald sie die straßenbahn verließ, versuchte richtungsweisende erläuterungen zu liefern. allerdings brachte er keinen einzigen vollständigen satz heraus und versteckte den großteil seiner worte unter einer schicht nuschelei. die ältere frau klinkte sich ein, erzählte etwas von fahrrädern, die auf den bahnhofseingang hindeuten würden.

glücklicherweise fuhr die bahn gerade an ebenjenem bahnhof vorbei, so daß sich die beiden überforderten befragten mit profaner gestik zu behelfen wußten, deuteten mehrfach in richtung des bahnhofseingangs, deuteten auf die fahrräder, die man davor erkennen konnte und schlossen damit ihre erklärung ab.

die junge dame bedankte sich freundlich, lächelte artig, schnappte sich ihren rucksack und begab sich zur straßenbahntür. der nuschelmann wies noch auf ihre zeitung, die sie wohl vergessen hätte. „nein, nein.“, lächelte die junge dame, „das ist nur die erste seite. die habe ich schon gelesen. der nächste freut sich.“, und stieg aus.

das alte paar schickte noch ein paar grummelnde worte hinterdrein. ich verstand sie nicht, doch ihr tonfall war mürrisch genug, um zu erahnen, daß weder die begegnung noch die zurückgebliebende zeitung ihnen zusagten.

welche mürrische mienen, wunderte ich mich und beobachtete zu meiner linken, wie eine dame im mittleren alter einen viererplatz für sich allein beanspruchte, indem sie ihre tasche auf den sitz gegenüber stellte und so den zutritt zu den übrigen plätzen versperrte. ein musik hörender jugendlicher warf ihr einen fragenden blick zu. seufzend stellte sie die tasche zwischen ihre beine. der junge nahm platz.

an der nächsten haltestelle stieg ein älterer mann ein, sah sich nach einem platz um und endeckte den nur halb besetzten vierer. er richtete einige wenige worte an die versperrende dame, die daraufhin mürrisch den weg freigab, nicht im geringsten daran denkend, einfach selber weiter, ans fenster, zu rücken. der mann zwängte sich mühsam durch und ließ sich nieder.

die bahn fuhr weiter. die unfreundliche miene auf dem gesicht der frau verblieb. und kaum war die nächste haltestelle erreicht, kaum hatten sich ringsum einige einzelplätze geleert, stand sie auf, ergriff ihre tasche und setzte sich dorthin, wo sie neben keinem fremden zu sitzen hatte, wo sie ungestört bleiben würde. war sie nun zufrieden? nein, ihre miene beharrte auf trübsinn.

und auch die frau, welche die ganze zeit bewegungslos neben mir gesessen hatte, stand nun auf, nicht, um den ausgang zu suchen, sondern um von mir fort auf einen einzelplatz zu kommen. ihr gesicht sprach bände.

was war nur los?, fragte ich mich. überall entdeckte ich nur mürrische mienen, unfreundliche gesichter, nach unten gezogene mundwinkel, böse blicke und finstere stirnfalten. verstohlen tastete ich nach meiner eigenen stirn, befühlte die gegend über die nase. und tatsächlich: auch ich hatte die stirn gerunzelt, unfreundliche falten über meine augen gepflanzt. heimlich versteckte ich meinen kopf in der hand und versuchte die falten glattzustreichen, drückte sie fest an meinen schädel. was hätte ich für ein stirnbügeleisen gegeben!

ich wollte nicht grimmig gucken, wollte nicht mit faltiger stirn durch die gegend laufen. ich knetete eine weile an den runzeln herum, ohne viel zu erreichen. als ich mir jedoch meiner albernen handlungsweise bewußt wurde, stahl sich ein grinsen auf mein gesicht.

und plötzlich waren die runzelfalten verschwunden. ich spürte, wie ein druck von meinem schädel wich, den ich zuvor gar nicht bemerkt hatte. beglückt stieg ich aus, schaute vergnügt einem vorüberlaufenden mädchen in die augen und erntete dafür ein zauberhaft süßes lächeln.

das leben konnte so einfach sein.